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Raureif in den Tropen

Der Vater NS-Kameramann, die Tochter Mitglied der bolivianischen Guerilla. Karin Harrasser erzählt die wahnwitzige Geschichte der Familie Ertl

Karin ­Harrasser: „Surazo. Monika und Hans Ertl. Eine deutsche Geschichte in Bolivien“. Matthes & Seitz, Berlin 2022, 270 Seiten, 26 Euro

Von Lukas Böckmann

Gelegentlich ist im tropischen Tiefland Boliviens ein bizarres Wetterphänomen zu beobachten. Wo sonst nur die täglichen Regenschauer die drückende Hitze ein wenig mildern, lässt bisweilen ein eiskalter, von Patagonien bis in die Feuchtsavanne der bolivianischen Chiquitanía strömender Polarwind die Welt plötzlich unter einer dicken Schicht Raureif erstarren.

Ähnlich gegenläufig wie der durch den Surazo genannten Südwind ausgelöste Wintereinbruch in den Tropen mutet die Geschichte der Mitte der 1950er Jahre aus Deutschland bis in die nahe Santa Cruz gelegene Chiquitanía ausgewanderten Familie Ertl an. Unter dem Namen des dort einfallenden Windes hat die in Wien und Linz tätige Kulturwissenschaftlerin Karin Harrasser nun eine bemerkenswerte Studie über Vater Hans und dessen Lieblingstochter Monika vorgelegt. In den Lebens­wegen der beiden, so schreibt die Autorin, lässt sich den politischen Erschütterungen des 20. Jahrhunderts nachspüren, die von Europa bis in das südamerikanische Andenland ausgriffen. In erstaunlicher Dichte scheinen sie sich gerade in den letzten Lebensjahren Monikas zu bündeln.

Als junge, politisch interessierte Frau schloss sie sich Ende der 1960er Jahre der von Ernesto Guevara gegründeten Guerilla ELN an. Aus Rache für dessen Tod soll sie 1971 in Hamburg ein tödliches Attentat auf den bolivianischen Konsul Roberto Quintanilla verübt haben, der Jahre zuvor als Oberst der Geheimpolizei eine zentrale Rolle in der Hinrichtung Guevaras gespielt hatte. Im Mai 1973 kam sie selbst im Alter von 35 Jahren bei einem Feuergefecht mit bolivianischen Sicherheitskräften in La Paz ums Leben.

Maßgeblichen Anteil an der Operation des Militärs trug ein Mann, den Monika in ihrer Jugend stets vertraulich „Don Klaus“ genannt hatte. Er war ein guter Freund der Familie und hatte lange Jahre in direkter Nachbarschaft zur Hacienda der Ertls in der Chiquitanía gelebt. Aus seiner Identität hatte Klaus Barbie in Bolivien kaum einen Hehl gemacht, obwohl er während des Zweiten Weltkriegs als „Schlächter von Lyon“ zahlreiche Kriegsverbrechen begangen hatte. Vielmehr war er zu einem einflussreichen Berater des bolivianischen Diktators Hugo Banzer in seinem Kampf gegen Guerilla und Opposition aufgestiegen.

Hans Ertl störte sich weitaus mehr am politischen Engagement seiner Tochter als an der Vergangenheit seines Freundes. 1908 in München geboren, hatte er in den 1930er Jahren als Kameramann Leni Riefenstahls im nationalsozialistischen Deutschland Karriere gemacht. Hatte er während des Zweiten Weltkriegs im Auftrag Goebbels’ Propagandafilme über die Wehrmacht gedreht, wollte er sich nach 1945 nicht als Nationalsozialist verstanden wissen. Und doch begegnete er der bald darauf gegründeten Bundesrepublik mit tiefer Verachtung. Mitte der 1950er Jahre wanderte er gemeinsam mit seiner Ehefrau und den drei Töchtern nach Bolivien aus, wo er versuchte, seine Karriere mit semidokumentarischen, meist verkitschten Filmen über die indigenen Kulturen des Landes fortzusetzen.

Als sein drittes Filmprojekt, das wie Harrassers Studie Surazo geheißen hätte, Anfang der 1960er Jahre scheiterte, zog er sich in die Chiquitanía zurück, wo er sich bis zu seinem Tod im Jahr 2000 der Rinderzucht widmete.

Anders als klassische geschichtswissenschaftliche Arbeiten folgt Harrasser in ihrer Studie jedoch nicht der vorgezeichneten Chronologie. Vielmehr fügt sie kollagenhafte Ausschnitte zu einem immer dichter werdenden Panorama zusammen. Bisweilen gleitet sie dabei ab, füllt zwangsläufig bestehende Lücken mit Fiktionalisierungen und bricht mit den Konventionen des Fachs.

Aus seiner Identität hatte Klaus Barbie in Bolivien kaum einen Hehl gemacht

Zwar entsteht dadurch, wie sie selbst einräumt, letztlich kein kompletteres Bild von Monika Ertl. Doch erweitert sie die bereits vorliegenden Arbeiten um einen erhellenden Blick auf den bislang unterbelichteten Beitrag von Frauen an den mit der Chiffre 1968 verbundenen Ereignissen.

Vor allem aber gelingt es Harrasser auf literarisch wunderbare Weise, durch ihre abrupten Per­spektivwechsel, Überblendungen und Montagen ein vielschichtiges Bild zeitgeschichtlicher Verflechtungen zu entwerfen.

Ganz ähnlich wie der unvermittelte Wintereinbruch in den Tropen auf thermische, mit dem bloßen Auge nicht erkennbare Gesetze zurückzuführen ist, lassen sich in ihm unter der Oberfläche wirkende Strömungen erkennen, die mitunter in Raum und Zeit weit zurückreichen und doch unmittelbar in das Zeitgeschehen hineinwirken.

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