Botschafter des Begehrens

Vor 150 Jahren etablierte Ernst Litfaß mit seiner gleichnamigen Säule Werbung im öffentlichen Raum. Mittlerweile hat der Werbeträger Konkurrenz bekommen, verschwinden wird er aber nicht so schnell

VON CLEMENS NIEDENTHAL

1964 präsentierte sich Westberlin mit einem eigenen Pavillon auf der Weltausstellung in New York – einem Pavillon in Form einer überdimensionierten Litfaßsäule. Kurz bevor im Berliner Straßenkampf auch die werbewirksamen Säulen brennen sollten – einige von ihnen waren damals noch aus Holz gebaut –, hatte die geteilte Stadt also ein Stadtmöbel als persönliches Logo ausgemacht, das umgekehrt selbst maßgeblich zur Logoisierung des Stadtraums beigetragen hat. Kurz: Mit der Litfaßsäule fing alles an. Genau 150 Jahre ist das nun her. Gerade wurde ihr Erfinder Ernst Litfaß mit einem Festakt im Innenhof des Jüdischen Museums gewürdigt.

Berlin ist also stolz auf seinen Sohn, stolz auf einen Bekanntmacher, den seine Erfindung selbst zum bekannten Mann machen sollte. Einen, der früh verstanden hatte, wie empfänglich der öffentliche Raum für die kleine – und manchmal auch große Kunst der grafischen Botschaft ist. Als „Säulenheiliger“ ging Ernst Litfaß in die an spezifischem Kolorit so reiche Berliner Lokalgeschichte ein. Und standesgemäß wurden anlässlich des Festaktes Erbsenpüree und Currywurst gereicht.

Zumindest in dieser Selbstinszenierung ruhte Berlin plötzlich ganz in sich selbst. Einer Säule sei Dank. Einer Säule, die längst auch ein Gefühlsarchiv für das geworden ist, was Berlin vermeintlich einmal war. So gesehen hat Ernst Litfaß das Erinnern an ein historisches Berlin vielleicht ganz ähnlich geprägt wie die Fotografien und Zeichnungen eines Heinrich Zille. Litfaß steht für die Promenaden und Flaniermeilen, Zille für die Hinterhöfe; Litfaß für Produkte, Zille für Produktionsbedingungen. Beide stehen für die sich konstituierende Industrie- und Konsumgesellschaft, für ihre Versprechungen und Albträume.

Das gegenwärtige Berlin ist eine Stadt wie viele andere spätmoderne Metropolen. Eine Stadt wie all jene, über die der Philosoph Jean Baudrillard bereits in den ausgehenden Siebzigerjahren den schlauen Satz gesagt hat: „Einst war die Stadt vorrangig der Ort der Produktion und der Realisation von Ware, heute aber ist sie der Ort der Exekution des Zeichens.“ Denn an dem Punkt, an dem sich die westliche Stadt von ihrem Dasein als Industriestandort zu verabschieden beginnt, gibt sie sich voll und ganz einer weiteren Funktion hin: Die Städte sind, neben den Medien, die Orte, an denen eine Gesellschaft ihre zumeist warenförmigen Wünsche artikulieren soll. Die Städte sind, neben den Medien, die Orte des Advertisements. Nicht ohne Grund waren es ausgerechnet die Leuchtreklamen am Berliner Kurfürstendamm oder gegenüber dem Frankfurter Hauptbahnhof, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Rückkehr vom Trümmerfeld zur stolzen Stadt illuminierten. Fortan war die flächendeckende Reklame mindestens beides: Selbstvergewisserung und Ärgernis. Wer so viel Licht, wer so viele Dinge hervorbringt, dem kann es so schlecht kaum gehen. Und so macht die werbende Stadt eben auch immer Werbung für sich selbst. Bright lights, big city sozusagen.

Um die Litfaßsäule ist es derweil dunkler geworden. Als urbanes Werbemedium verschwand sie zwar nicht von den Straßen und Plätzen. Aber sie muss sich längst mit den kleineren Botschaften begnügen – ist doch die Plakatwand größer, die Leuchtreklame heller, kommt der im Coporate Design lackierte Linienbus weiter herum. Die Litfaßsäule ist heute das klassische Werbemedium des Kulturbetriebs. Und, so Andreas Orth, Chefvermarkter der Berliner Anschlagsäulen, „in Städten mit Metropolencharakter populär; in Städten, in denen ein umfassendes kulturelles Angebot beworben werden muss“. Damit sich der Kulturbetrieb das auch weiterhin leisten kann, sind die Preise an der Säule moderat. 21 Euro kostet etwa eine der 3.600 Litfaßsäulen in der Hauptstadt am Tag, ein einzelner DIN-A 1-Anschlag ist bereits für 70 Cent zu haben. Immerhin 80 Millionen Euro werden so deutschlandweit jährlich mit den Litfaßsäulen umgesetzt.