Plan B für Europa

Die Kraft für Reformen in der EU fehlt gerade den überzeugten Europäern in Frankreich und Deutschland. Aber nun kommt Tony Blair mit viel Elan und streitbaren Vorschlägen

Mit seinem Programm wird sich Blair in den alten Mitglieds-ländern wenig Freunde machen

So schnell kann es gehen in der Politik: Mit Vorschusslorbeeren wurde Jean-Claude Juncker zu Jahresbeginn begrüßt, als er das Halbjahr der Luxemburger Ratspräsidentschaft einläutete. Drei Ziele hatte er sich gesteckt: die Reform des Stabilitätspakts, breite Unterstützung für die EU-Verfassung und eine ausnahmsweise pünktlich ausgehandelte Finanzplanung für die Jahre 2007 bis 2013.

Sechs Monate später muss man feststellen: Er hat seine Erfahrung, seine Liebe zu Europa und sein politisches Talent eingesetzt, aber keins seiner Ziele erreicht.

Alle Aufmerksamkeit richtet sich nun auf Tony Blair, dessen Halbjahr als EU-Präsident die meisten im Geist zunächst aus dem Kalender bedeutender Ereignisse gestrichen hatten. Aus dem Insellobbyisten, der seinen unzeitgemäßen Britenrabatt um jeden Preis retten will, wird der Politiker mit europäischer Zukunftsvision. Auch wenn er für sein Halbjahr keine konkreten Ergebnisse angekündigt hat, bringt er immerhin mit großem Elan eine überfällige Diskussion in Gang.

Zu Jahresbeginn hätte ihm wohl noch keiner zugehört. Damals konnte man davon ausgehen, dass die EU-Verfassung den mit dem spanischen Referendum gestarteten Siegeszug ungebremst fortsetzen würde. Nur 1 von 25 Mitgliedsländern galt als Wackelkandidat: Großbritannien. Wäre alles so gekommen, wäre der neue Ratspräsident Tony Blair heute beim Amtsantritt ziemlich isoliert. Sein Auftritt beim EU-Gipfel Mitte Juni wäre ausschließlich in diesem Kontext gewertet worden: Schon Margaret Thatcher war ihr Geld wichtiger als die europäische Idee. 24 Länder sagen begeistert Ja zu Europa. Das Problem liegt beim ewigen Außenseiter – soll er doch endlich Konsequenzen ziehen und austreten.

Die Ablehnung der EU-Verfassung durch eine Mehrheit der Franzosen und Holländer hat Euroskepsis von einer britischen Skurrilität zum kontinentalen Normalfall befördert und damit den Blickwinkel auf die britische EU-Politik völlig verändert.

Schon vor den geplatzten Referenden wussten die Politiker ganz genau, dass die Kluft zwischen den Bürgern und dem europäischen Projekt wächst. Sie wurden bei jeder Europawahl daran erinnert und versuchten mit einer Reform der europäischen Institutionen zu antworten. Wenn Europa reibungsloser funktioniert, wenn es logischer und verständlicher organisiert ist, werden die Menschen sich dem europäischen Projekt wieder zuwenden, so die Überzeugung.

Doch die Wähler machten klar, dass der Verfassungstext ihre Fragen nicht beantwortet. Jean-Claude Juncker blieb nichts übrig, als am Ende seiner Präsidentschaft eine tiefe Krise der Union zu diagnostizieren. Fast alle anderen wiederholten die hilflose Forderung, man müsse den Menschen besser zuhören. Weil von Chirac über Schröder bis hin zu Kommissionspräsident Barroso Ratlosigkeit regiert, konnte Tony Blair mit einer einzigen Rede in der vergangenen Woche vor dem Europaparlament das Stigma des europafeindlichen Nörglers von der Insel abstreifen.

Seine Stärke: Er packt das Problem von einer neuen Seite an. Er fordert nicht, dass man den Menschen endlich zuhören müsse. Er sagt, dass er ihnen bereits zugehört und dabei verstanden habe: Die organisatorische Reform der Union interessiere sie nicht vorrangig. Nein, die Leute wollen Arbeitsplätze und Sicherheit. Die britische Präsidentschaft widme sich also bis Jahresende genau diesen Themen.

Würde man die Verfassungsgegner in Frankreich mit Tony Blair ins Gespräch bringen, wäre schnell klar, dass sie vielleicht über diese Ziele mit ihm einig sind, den von ihm vorgeschlagenen Weg dorthin aber rundweg ablehnen.

Blair will die Dienstleistungsrichtlinie, den Abbau von Vorschriften, die den Wirtschaftsstandort beeinträchtigen, eine unternehmensfreundliche Chemiegesetzgebung und den Abbau von Handelshemmnissen auf dem Weltmarkt. Damit können offene Grenzen für amerikanische Genprodukte ebenso gemeint sein wie faire Zuckerpreise oder Entwicklungsförderung durch freien Handel mit den ärmsten Ländern.

Mit diesem Arbeitsprogramm wird sich Blair in den alten Mitgliedsländern wenig Freunde machen. Die Dienstleistungsrichtlinie wollen alle verhindern, die Billigkonkurrenz auf dem Arbeitsmarkt fürchten müssen. Abbau von Vorschriften heißt immer auch weniger Umwelt-, Arbeits- und Verbraucherschutz. Eine Agrarproduktion zu Weltmarktpreisen bedroht die Existenz vieler europäischer Bauern.

Tony Blair hat vor kontinentaleuropäischem Publikum sehr selbstbewusst auf die wirtschaftlichen Erfolge seiner achtjährigen Amtszeit hingewiesen. Sie können sich auch sehen lassen. Doch New Labour hat die sozialen Gegensätze nicht verringern können. Das britische Modell hat viele Schattenseiten. Das räumt auch der Premierminister indirekt ein, wenn er auf seine sozialpolitischen Initiativen der jüngsten Vergangenheit verweist: Erhöhung des Mindestlohns, Maßnahmen gegen Kinderarmut, Ausbau der Betreuungseinrichtungen, Investitionen in den öffentlichen Transport und das Gesundheitswesen.

In diesen Bereichen bestand erheblicher Nachholbedarf, wie Tony Blair offen zugibt. Doch er verbindet dieses Eingeständnis mit einem Seitenhieb auf die sich sozialpolitisch überlegen wähnenden Franzosen: Großbritannien habe sein Sozialsystem auf der Grundlage einer starken Volkswirtschaft gebaut, nicht auf deren Kosten. Wer sich dieser Tage im alten Europa umschaut, muss das eine treffende Bemerkung nennen.

Tony Blair konnte mit einer einzigen Rede das Stigma des europafeindlichen Nörglers abstreifen

Es kann Europa nur gut tun, sich von einem Außenseiter kritisieren zu lassen. Schließlich bestreitet niemand, dass es so nicht weitergehen kann und Reformen überfällig sind. Doch die Kraft, sie anzupacken, fehlt nicht nur den nationalen Regierungen in Frankreich und Deutschland, sondern auch der Union insgesamt. Statt mit einem diffusen Plan D (für Demokratie oder Denkpause oder …) die Bürger so lange in Debatten zu verwickeln, bis sie Europa wieder gut finden, sollten die nächsten sechs Monate genutzt werden, um über politische Alternativen zu streiten.

Blair will nun nicht nur immer den Bürgern zuhören, die zwar das Ziel benennen können, auf dem Weg dorthin aber Führung von ihren Politikern erwarten. Ihm geht es auch darum, die Experten mehr zu Wort kommen zu lassen. Vorschläge, wie die Sozialsysteme umgebaut werden müssen und wie das gemeinschaftliche Geld ausgegeben werden soll, liegen stapelweise in den Schubladen der Regierungen. Mehr für Forschung und Bildung, weniger für Landwirtschaft – das fordert nicht nur Tony Blair.

Natürlich kann New Labour nicht ganz Europa glücklich machen. Da aber derzeit keiner bessere Rezepte hat und Blair ohnehin sechs Monate lang Europas Gastgeber spielt, sollten wir unvoreingenommen kosten, was die britische Küche zu bieten hat.

DANIELA WEINGÄRTNER