Ein Tag für Dialektiker

VON JENS KÖNIG

1. Weiß die rot-grüne Koalition eigentlich, was sie heute da im Bundestag tut? Ja. Sie will Neuwahlen herbeiführen. Das ist ihr Ziel. Alles, was der Kanzler und die Regierungsfraktionen dafür tun können, werden sie tun: Gerhard Schröder stellt im Parlament die Vertrauensfrage, die Abgeordneten von SPD und Grünen werden ihm dieses Vertrauen mehrheitlich entziehen – indem sie sich bei der Abstimmung enthalten.

2. Wenn die Koalition weiß, was sie tut – warum herrscht seit der Ankündigung von Neuwahlen am 22. Mai dann eine so heillose Verwirrung? Weil die Koalition von dem, was sie tut, nicht überzeugt ist. Die Entscheidung, Neuwahlen herbeizuführen, war die einsame Entscheidung zweier Männer. (Es sei denn, man glaubt dem Gerücht, in Wirklichkeit habe Doris Schröder-Köpf die Idee mal so eben nebenbei erwähnt, ihr Gerd habe spontan ausgerufen: Ja, das ist es! und sei dann zur Tat geschritten.) In diesem als Überraschungscoup gedachten Schritt werden alle Stärken und Schwächen von Schröders Politikverständnis bloßgelegt: sein Machtinstinkt, der unbändige Ehrgeiz des Aufsteigers, die Risikofreude, das Desinteresse an Verfahrensfragen, seine Verachtung für Parteigremien. Aber diesmal hat Schröder sein Instinkt verlassen: Er glaubte, die SPD vor dem weiteren Absturz bewahren zu können. Dabei manifestierte seine Entscheidung das Ende von Rot-Grün, sie stürzte die SPD nur noch tiefer ins Elend. Das verstärkte bei allen rot-grünen Führungsleuten die ohnehin vorhandene Verzweiflung: Sie halten die Neuwahl für einen großen Fehler, nur die wenigsten geben das jedoch zu. Sie verkaufen ihren eigenen Untergang als alternativlos. Sie belügen sich selbst – das spüren die Wähler.

3. Hat die rot-grüne Führung nach dem 22. Mai Fehler gemacht? Ja, am laufenden Band. Die meisten Fehler gehen übrigens auf das Konto des sozialdemokratischen Heilsbringers Franz Müntefering. Das begann schon am Abend der verlorenen NRW-Wahl. Der SPD-Partei- und Fraktionschef begründete die Entscheidung für Neuwahlen mit den Worten, das „strukturelle Patt“ zwischen Bundestag und unionsdominiertem Bundesrat müsse aufgelöst werden. Nicht nur, dass dies ein indirekter Aufruf zur Wahl von Angela Merkel war – nur mit einer anderen Mehrheit im Bundestag ließe sich schließlich das Patt auflösen –, diese Begründung ist auch verfassungsrechtlicher Blödsinn. Schröder soll im Übrigen von diesen Worten Münteferings vorher nichts gewusst und entsprechend sauer reagiert haben. Fortgesetzt wurde die Pannenserie mit der von Müntefering losgetretenen Beschimpfung der Grünen; sie sollten plötzlich als Sündenbock herhalten. Und schließlich wurde in aller Öffentlichkeit jede Woche eine andere Variante durchgespielt, wie das Misstrauen im Bundestag „organisiert“ werden soll: durch eine verlorene Abstimmung über eine konkrete Sachfrage, durch eine allgemeine Vertrauensfrage, bei der sich die Minister enthalten („Modell Brandt“) oder bei der sich viele Abgeordnete enthalten („Modell Kohl“). Dies ließ zwingend den Eindruck aufkommen, Schröder und Müntefering seien Dilettanten, die nicht mal wüssten, wie man den Weg zu Neuwahlen verfassungsrechtlich sauber beschreitet. Außerdem wurden mit jeder neuen Ansage die SPD und der grüne Koalitionspartner abermals brüskiert.

4. Warum enthält sich der Kanzler bei der Vertrauensfrage der Stimme? Spricht er sich selbst das Misstrauen aus? Dieses Paradox ist am ehesten mit der sozialdemokratischen Gefühlswelt zu erklären. Wenn ein Kanzler seine eigenen Abgeordneten schon dazu nötigt, ihm das Misstrauen auszusprechen, obwohl sie es gar nicht wollen, dann muss er als überzeugter Sozialdemokrat bei der Selbstgeißelung mit gutem Beispiel vorangehen. Willy Brandt (1972) und Helmut Kohl (1982) haben übrigens an den Abstimmungen zur Vertrauensfrage nicht teilgenommen.

5. Wie kann der Bundeskanzler begründen, dass er kein Vertrauen mehr im eigenen Lager hat, wo doch die Koalition im Bundestag jedes wichtige Gesetz mit eigener Mehrheit verabschiedet hat? Das Bundesverfassungsgericht schrieb 1983 jedem Bundeskanzler für das Neuwahl-Verfahren zwingend vor: „Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, dass er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag.“ Das entscheidende Wort lautet „stetig“. Der Kanzler wird heute erklären, dass er nicht mehr sicher sein kann, nach der verlorenen NRW-Wahl „stetig“, also dauerhaft, eigene Mehrheiten zu bekommen. Das ist natürlich eine Ermessensfrage. Das Stimmverhalten in der Vergangenheit ist da nicht so relevant.

6. Muss es Neuwahlen geben, wenn der Bundestag dem Bundeskanzler das Vertrauen nicht ausspricht? Nein. Die Beantwortung der Vertrauensfrage ist nur der erste Schritt. Die Entscheidung über eine Neuwahl liegt allein im Ermessen des Bundespräsidenten. Im Artikel 68 des Grundgesetzes heißt es, dass das Staatsoberhaupt den Bundestag auf Vorschlag des Kanzlers auflösen „kann“, wenn die Vertrauensfrage negativ beantwortet worden ist. Die Entscheidung des Staatsoberhaupts kann außerdem vom Verfassungsgericht überprüft werden.

7. Alle Parteien sowie die Mehrheit der Bundesbürger wollen Neuwahlen. Kann der Bundespräsident sich diesem demokratischen Wunsch widersetzen? Theoretisch ja. In seinem grundlegenden Urteil zur Auflösung des Bundestages von 1983 hat das Bundesverfassungsgericht den allgemeinen Wunsch nach Neuwahlen als „allein unzureichend“ qualifiziert. Im Umkehrschluss heißt das aber, dass dieser Wunsch eben doch mit berücksichtigt wird. Es muss jedoch noch andere Gründe geben.

8. Der Kanzler stellt die Vertrauensfrage mit der klaren Absicht, die Abstimmung zu verlieren. Ist diese „Trickserei“ erlaubt? Ja. Die Verfassung schließt diese Variante nicht aus. Der Kanzler kann nicht nur das Vertrauen anstreben, sondern auch das Misstrauen. Verfassungsrechtlich ist völlig unstrittig, dass Willy Brandt 1972 angesichts der Spannungen in seiner Koalition die Vertrauensfrage stellen durfte, um Neuwahlen herbeizuführen.

9. Was passiert, wenn der Bundespräsident den Bundestag nicht auflöst? Es müsste gar nichts passieren. Schröder könnte theoretisch bis Herbst 2006 weiterregieren. Das ist jedoch sehr unwahrscheinlich. Variante 2: Schröder könnte als Kanzler zurücktreten, und Rot-Grün wählt einen neuen Regierungschef, Müntefering oder Struck zum Beispiel. Auch unwahrscheinlich. Die Grünen würden, nach dem Desaster der letzten Wochen, keinen „Ersatzkanzler“ der SPD mittragen. Variante 3: Der Bundestag ändert mit Zweidrittelmehrheit das Grundgesetz und ermöglicht eine Selbstauflösung des Parlaments. Durchaus möglich.

10. Wenn alles so kommt, wie Schröder es will – hält er als Kanzler dann bis zum 18. September durch? Seit dem 22. Mai gilt: Alles ist möglich. Auch ein sofortiger Rücktritt Schröders nach einer verlorenen Vertrauensabstimmung. Natürlich würde dann jeder fragen, warum er nicht gleich zurückgetreten ist. Antwort? Gibt es keine überzeugende. Es könnte auch passieren, dass Schröder irgendwann im August zurücktritt bzw. zurücktreten muss, weil die SPD in den Umfragen so tief gefallen ist, dass die Partei die Notbremse zieht. Ein neuer Spitzenkandidat würde die SPD dann geordnet in die Opposition führen. Müntefering? Struck? Der Bremer Henning Scherf? Auszuschließen ist gar nichts mehr.