Tiergarten wird gezähmt

Der charmant verwilderte östliche Tiergarten soll in den nächsten Jahren nach historischem Vorbild gestaltet werden. Bisher fehlt der Großteil des Geldes. Naturschützer warnen vor sterilem 08/15-Rasen

VON ULRICH SCHULTE

Wo gibt’s denn so was? Nur ein paar hundert Meter vom Brandenburger Tor sind Trampelpfade zu finden, Wildblumen, Heilkräuter, darunter Brennnesseln en masse. Der östliche Teil des 210 Hektar großen Tiergartens zwischen Entlastungs- und Ebertstraße ist ein Stück freie Natur mitten im Wohnzimmer Berlins, ein – nicht zuletzt dank des Schattens der Mauer – charmant verwildertes Areal.

In den nächsten Jahren wird mit der Graswurzelrevolution aufgeräumt – was Naturschützer auf die Barrikaden treibt. Nach Plänen des Senatsbaudirektors und des Bezirks Mitte soll der Park mit Promenaden, neuen Alleen und Skulpturen wie dem Komponistendenkmal aufgehübscht werden – im Stile des Landschaftsarchitekten Peter Joseph Lenné (1789–1866). Allein schon ein „Gebot der Erreichbarkeit und Entwicklung“ ist dies – neben ästhetischen Gesichtspunkten – für Klaus von Krosigk, den Chef der Gartendenkmalpflege: „Ein Stadtpark muss entsprechend der Devise erschlossen sein: Gärtnern um der Menschen willen.“

Wichtigster Punkt des Konzepts ist die Kleine Querallee, die zwischen Reichstag und Kemperplatz an der Philharmonie neu angelegt werden soll. Der erste Abschnitt der zwölf Meter breiten Promenade ist bereits fertig, ein weiterer Teil solle noch in diesem Jahr entstehen, sagt Dorothee Dubrau, Baustadträtin des Bezirks Mitte. „Auch ein vernünftiger Südabschluss des Areals soll entstehen.“ Dafür werde, so Dubrau, ein rund fünf Meter breiter Streifen an der Lenné-Straße gerodet, ein heller Kiesweg werde darauf entstehen. „Strauchwerk und Totholz kommen weg, gute Bäume bleiben natürlich stehen“, fügt die Baustadträtin hinzu.

Bei diesem Thema wählen alle Beteiligten ihre Worte vorsichtig. Denn Naturschützer fürchten einen Kahlschlag, der das wilde Durcheinander, das viele Tier- und Pflanzenarten beherbergt, zugunsten einer sterilen Sichtachsen-Anordnung beseitigt. „Dieses Stück wilder, aber reizvoller Landschaft empfinden die Leute doch nicht als Schandfleck“, sagt Marianne Weno, Mitglied im Vorstand der Stiftung Naturschutz. Die Langgraswiesen und Brennnesseln böten Lebensraum für Insekten und Schmetterlinge, Vögel fänden ungestörte Brutmöglichkeiten.

„Die Bäume, die durch die Planungen gefährdet sind, sind in der Nachkriegszeit gewachsen. Viele sind über 50 Jahre alt“, sagt Weno. Und die Trampelpfade seien schließlich „ein an den Bedürfnissen der Menschen gewachsenes Wegenetz“.

Tatsächlich wird, wo bisher wildes Gras sprießt, künftig 08/15-Rasen wachsen. „Die Langgraswiesen sind doch in der Regel sowieso flach getrampelt“, sagt Baustadträtin Dubrau. „Die Menschen, die zur Erholung in den Park kommen, müssen eine Wiese auch nutzen können.“

Kurz: Der Igel muss sonnenölbeschmierten Großsäugern weichen. Er soll sich in Zukunft in den Übergangsbereich zwischen Wald und Wiese flüchten. „Dort sollen ökologische Schutzräume mit Kräutern, Brennnesseln und Sträuchern entstehen“, sagt Dubrau. Auch würden Biotope eingezäunt, wie etwa bei der neu eröffneten Wildbienenvilla. Die Befürchtung des großen Baumsterbens wiegelt die Baustadträtin ab. Bei jedem einzelnen Baum werde geprüft, „ob er gesund ist oder Stammschäden oder Krankheiten hat“.

Wann aber tatsächlich die Lennéisierung des Geländes ernsthaft beginnt, ist ungewiss. Der erste Abschnitt der Querallee wurde laut Dubrau mit Ausgleichsmitteln bezahlt. Sprich: Der Betrag stammt von Firmen, die in der Stadt bauen und laut Gesetz für Renaturierungsmaßnahmen (!) zahlen müssen. Für das Konzept – samt Erneuerung von Wegenetz und Goldfischteich – wären fast 9 Millionen Euro fällig. Nur 1,5 Millionen übernimmt der Bezirk, jetzt soll sich die Europäische Union für den Tiergarten erwärmen. Die Igel können fürs Erste aufatmen.