Tiergarten
: Let it grow!

Ach, was seid ihr provinziell! Dies ist wohl der einfachste, gleichwohl gerne verwandte Vorwurf an die Naturschützer, die sich gegen die Umgestaltung des östlichen Tiergartens wehren. Die wiedervereinigte Hauptstadt braucht doch hier, mitten im wichtigen Zentrum (Reichstag! Holocaust-Mahnmal! Brandenburger Tor!), was Richtiges, was Repräsentables, keine Brennnesselsteppe, sagen die Lenné-Anhänger. Sind Brennnesseln also provinziell? Es ist genau umgekehrt: Wahrhaft großstädtisch wäre es, den Park so zu lassen, wie er ist – gewachsen, verwildert, voller Leben.

KOMMENTAR VON ULRICH SCHULTE

Selbst wenn man das (berechtigte) Tagpfauenauge-Zählen mal außen vor lässt, bei dem die Historienkopie schlecht abschneiden würde: Provinziell ist es, das Zentrum einer Stadt mit ungezählten Brüchen als historisches Legoland aus einem Guss präsentieren zu wollen. Provinziell ist es, die Stimmann’sche Traufhöhen-Doktrin für alle Orte zu denken. Provinziell ist es nicht zuletzt, ohne das nötige Geld zu planen.

Es kann einem so vorkommen, dass der Mensch in den geleckten Ensembles in Mitte, auf dem Potsdamer und Pariser Platz nur störendes Beiwerk ist. Eine ganz normale Bank – es geht, wohl gemerkt, um die Sitzgelegenheit – hat Seltenheitswert. Den Ort zum Ausruhen muss man sich in der Regel mit einem Latte Macchiato für 4 Euro erkaufen.

Der östliche Tiergarten ist derzeit noch eine wohl tuende Ausnahme. Er ist einladend im ursprünglichen Sinne, er führt Mensch und Natur ungezwungen zusammen, er ist eine Oase in einem durchökonomisierten öffentlichen Raum.

Und die Anhänger gepflegter Grünflächen sollten sich eines in ihre Pläne schreiben: Der natürliche Wohnort des Rasenmähers ist das Dorf.

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