„Er ist getrieben“

Dan Coyle hat Lance Armstrong ein Jahr lang begleitet und danach eine Biografie über den sechsfachen Tour-Sieger geschrieben. Im taz-Interview schildert er seine Eindrücke

Dan Coyle, Redakteur des amerikanischen Sportmagazins „Outside“, ist für seine Sportreportagen in den USA mehrfach mit Preisen ausgezeichnet worden. Coyle hat die komplette Radsportsaison 2003/04 an der Seite von Lance Armstrong verbracht und seine Einblicke in der ersten unabhängigen Biografie des Champions, „Lance Armstrong’s War“, niedergeschrieben. Das Buch erscheint im Herbst auch in Deutschland.

taz: Mr. Coyle, was treibt Lance Armstrong an?

Dan Coyle: Der Kampf. Er liebt es zu kämpfen, und er liebt es zu gewinnen. Und er will nicht knapp gewinnen, er will dominieren. Das ist ein tief sitzender Drang, der sich auf all seine Lebensbereiche erstreckt.

Woher kommt dieser Drang?

Darüber kann man nur spekulieren – Armstrong widerstrebt jegliche Psychoanalyse. Er ist als Sohn einer allein erziehenden Mutter im Armenviertel von Dallas aufgewachsen. Er liebt es, Macht und Kontrolle zu haben; vielleicht kommt das daher, dass er als Kind so ausgeliefert und hilflos war. Mein Buch hat ein Kapitel mit dem Titel „Die Quelle“ – ein Kapitel über Armstrongs Mutter. Ich denke, alles kommt von seiner Mutter. Ihr Überlebensdrang und -kampf hat sich auf ihn übertragen.

Warum sagen Sie, dass er der Psychoanalyse widersteht?

Es ist ein sehr amerikanischer Charakterzug an ihm. Er strebt immer nach vorn, ist immer optimistisch und ignoriert einfach alles, was schmerzhaft und kompliziert ist.

Ist Armstrongs Drang zu kämpfen und zu siegen stillbar? Anscheinend haben ihn nicht einmal sechs Tour-Siege besänftigen können.

Das ist eine gute Frage. Es wird sehr spannend sein, zu sehen, was er tut, wenn er mit dem Radfahren aufhört. Es wurde letztens berichtet, dass er mit seiner Freundin Sheryl Crow an der Villa des texanischen Gouverneurs vorbeigefahren ist und gesagt hat, dass es sich dort sicher gut leben lasse. Ich kann ihn mir sehr gut in der Politik vorstellen, dort kann er genauso weiterkämpfen wie auf dem Rad. Und er wäre ein hervorragender Politiker im heutigen Amerika – er wäre so etwas wie ein Arnold Schwarzenegger mit Substanz.

Bisher wurde Armstrongs Bild in der amerikanischen Öffentlichkeit fast ausschließlich von seinen beiden Autobiografien bestimmt. Ist es Teil seiner Sucht nach Kontrolle, sein Bild in der Öffentlichkeit selbst bestimmen zu wollen?

Nein, er tut nur, was jeder andere in seiner Lage mit einem geschätzten Jahreseinkommen von 28 Millionen Dollar auch tun würde: Er erzählt lieber seine eigene Geschichte, als sie von anderen erzählen zu lassen.

Die Geschichte, die er erzählt, ist eine Heldengeschichte, eine schöne Hollywood-Fabel. Außer Ihnen hinterfragt in den USA niemand diese Fabel. Liebt man in Amerika den schönen Schein mehr als die Wirklichkeit?

Ich denke, mein Buch wird ein Test, ob Amerika bereit ist für eine etwas komplexere Geschmacksrichtung. Ich baue darauf, dass Amerikaner eine gute Nase dafür haben, wenn sie verarscht werden. Sie haben jetzt sechs Jahre dieselbe Geschichte gehört. Gleichzeitig verstehen sie immer mehr vom Radsport und fangen vielleicht an, kritische Fragen zu stellen. Amerikaner haben bislang den Radsport in der Hauptsache durch Armstrong kennen gelernt. Europäer haben einen anderen Kontext. Aber diesen Kontext gewinnen die Amerikaner zusehends.

Warum lieben die Amerikaner Armstrong und seine Heldenfabel – und warum waren Europäer von Anfang an skeptisch?

Es sind unterschiedliche Einstellungen zum Schicksal. Armstrong spuckt auf das Schicksal, es ist für ihn eine Herausforderung – das ist sehr amerikanisch. Europäer neigen eher dazu, es zu akzeptieren. Das Achselzucken ist eine typisch europäische Geste – das Anerkennen der Dinge wie sie nun mal sind. Amerikaner kennen das nicht.

Was ist Ihr persönlicher Eindruck von Armstrong.

Je näher ich ihm gekommen bin, desto weniger habe ich ihn bewundert. Jetzt habe ich wieder mehr Distanz und bewundere ihn wieder. Ich möchte das so formulieren: Er ist ein gutes Idol für meinen kleinen Sohn. Wenn er mit meiner Tochter ausgehen würde, hätte ich aber ein komisches Gefühl dabei.

Ist Armstrong glücklich?

Er ist getrieben – und Menschen, die getrieben sind, sind nicht glücklich. Er hat immense Probleme mit Nähe. Bei der vergangenen Tour hat Jan Ullrich ihn einmal umarmt, das hat Armstrong total verstört. Ullrich hat verstanden, womit man Armstrong schlagen kann: Nicht indem man ihn bekämpft, sondern in dem man ihn liebt. Damit kann er nicht umgehen.

INTERVIEW: SEBASTIAN MOLL