„Ein Stück Volkskammer“

Der Grüne Werner Schulz zieht einen harten Vergleich. Die Union jubelt, verstummt aber bald. Bei den Grünen entlädt sich kollektive Wut

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Als fast alles gelaufen war an diesem denkwürdigen Tag, als alle Reden gehalten waren, als nur noch die Abstimmung über Schröders Vertrauensfrage anstand, deren Ausgang für keine Überraschung mehr sorgen würde, als die Journalisten auf der Tribüne schon hinunter in die Lobby wollten – in diesem Moment ging es für Werner Schulz erst richtig los, und ein paar Stunden später sollte er in seiner Partei vollends isoliert sein.

Schulz trägt an diesem Freitag einen grauen Anzug und ein blaues Hemd. Sein Haar und sein Bart sind längst weiß geworden. Er leuchtet, wie er plötzlich durch den Plenarsaal nach vorn ans Mikro geht. Bundestagspräsident Thierse hat eine „persönliche Erklärung des Abgeordneten Schulz“ angekündigt. Alle wissen, dass der Grüne bereit ist, eine Verfassungsklage gegen Schröders Vorgehen einzureichen.

Schulz sitzt seit 15 Jahren im Bundestag. Er ist als guter Redner bekannt. Früher war er mal eine große Nummer bei den Grünen. Chef der acht Bündnis-90-Abgeordneten, die zwischen 1990 und 1994 die grüne Fahne im Parlament hochhielten. Später fast Fraktionschef. Aber in den letzten vier Jahren nur noch ein einsamer Kämpfer gegen Hartz IV und für die demokratischen Rechte der Abgeordneten. Ein grüner Außenseiter. Als er jetzt da vorne am Pult die ersten Worte spricht, ist klar, dass dies keine „normale“ Erklärung werden wird. „Ich werde mich an dieser Abstimmung nicht beteiligen“, sagt er. „Was hier abläuft, ist ein inszeniertes, ein absurdes Theater.“

Schulz ist intelligent und unbestechlich. Das hat er in der DDR gelernt. Er hat gegen die Staatspartei SED und ihren Allmachtsanspruch gekämpft. In der Wendezeit ist er, der studierte Lebensmitteltechnologe, in die Politik gespült worden und dort ein Bürgerrechtler geblieben. Schröders hemdsärmelige Art, mit dem Grundgesetz umzugehen, macht ihn wütend. Diese Wut lässt er raus an diesem Tag. Er geißelt das Vorgehen des Kanzlers als eine „fingierte, eine unechte Vertrauensfrage“. Er ätzt über die „alten 68er“, die ausgerechnet „über einen Missbrauch des Artikels 68 ihren Abgang vorbereiten“. Die Union jubelt. Und dann haut Schulz ausgerechnet dem Außenminister, der vor ihm eine furiose Rede gehalten hat, auch noch den Titel seines neuen Buches um die Ohren. Die „Rückkehr der Geschichte“, höhnt Schulz, „sollten wir nicht als ein Stück Volkskammer veranstalten“. Auch dort seien Abgeordnete eingeladen worden, nicht ihrer Überzeugung, sondern dem Willen von Partei- und Staatsführung zu folgen.

Volkskammer! Er hat tatsächlich Volkskammer gesagt! Den Bundestag mit diesem SED-Machtinstrument verglichen. Jetzt verstummen auch die Unionsgröler wieder. Die Grünen gucken fassungslos. Schulz läuft zurück auf seinen Platz.

Ein paar Minuten später, draußen vor dem Plenarsaal, prasselt ein Gewitter auf ihn nieder. „Das war zu viel, Werner“, sagt eine Parteifreundin. „Volkskammer! Du spinnst ja.“ – „Du weißt ja genau, wie es da ablief“, antwortet Schulz. „Wenn du willst, erklär ich’s dir mal.“

Die einen schütteln den Kopf, die anderen giften ihn an – aber sauer sind fast alle Grünen. Selbst Ströbele. Der Linke, der die Vertrauensfrage auch nicht überzeugend findet. „Nee“, sagt er, „mit dem Volkskammer-Vergleich hat sich Werner keinen Gefallen getan.“ Bei einem Fraktionstreffen am Nachmittag entlädt sich die kollektive Wut. Eine „selbstgefällige Abrechnung mit anderen Kollegen“ wirft ihm Parteichefin Claudia Roth vor. Umweltminister Jürgen Trittin findet, mit dem Vergleich habe Schulz „jedes seiner Argumente jeglicher Glaubwürdigkeit beraubt“. Als die Ersten dazwischengehen und rufen „Jetzt reicht es!“, legt Ex-Fraktionschef Rezzo Schlauch erst richtig los: „Nein, reicht nicht, da kann man sogar noch was draufsetzen.“

Schulz versucht tapfer zu bleiben. „Ich hätte mich nicht wohl gefühlt, wenn ich heute nicht geredet hätte“, sagt er. Er nennt das den „aufrechten Gang“. Als er 1968 an der Berliner Humboldt-Uni studierte, sollte er den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag auf einer Unterschriftenliste begrüßen. Er weigerte sich, er hielt den „Prager Frühling“ für richtig. Als Druck ausgeübt wurde, unterschrieb er doch. Gegen seine Überzeugung. Das hat er sich nie verziehen.