„Ich will Sand im Getriebe sein“

Dieter Ziebarth

„Ich kann es auf den Tod nicht leiden, wenn nach zweierlei Maßstab gemessen wird, wenn Menschen Chancen verweigert werden. Man bekommt keinen Frieden, wenn man nicht gleichzeitig für Gerechtigkeit eintritt“ „Es gibt Tage, da mache ich im Abschiebgewahrsam zwanzig Besuche und erfahre mindestens zwölf neue Schicksale. Die zweistündige S-Bahn-Fahrt von Grünau nach Hause hilft mir, etwas Ordnung in meine Gedanken zu bringen“

Er teilt sein Arbeitszimmer mit einem katholischen Jesuiten und einem Imam. Und wenn er Gottesdienst hält, sind die Christen meist in der Minderheit. Stattdessen kommen vor allem Muslime, manchmal auch Hindus, die Trost bei ihm suchen. Aber das stört ihn nicht. Als evangelischer Seelsorger im Abschiebegewahrsam Grünau will Pfarrer Dieter Ziebarth, 64, für jeden da sein, der dort inhaftiert ist. Zu DDR-Zeiten betreute er Ausreisewillige, die vom SED-Staat unterdrückt wurden; heute setzt er sich für Menschen ein, die bleiben wollen. Gemein ist beiden Gruppen, dass ihnen Unrecht geschieht.

INTERVIEW FELIX LEE
UND PLUTONIA PLARRE

taz: Herr Ziebarth, was kann ein Pfarrer einem Flüchtling auf den Weg geben, der in sein Herkunftsland abgeschoben wird?

Dieter Ziebarth: Ein Händedruck vermittelt manchmal mehr als Worte. Alles, was man sagen könnte, würde makaber klingen. Wie soll man jemandem Glück wünschen, auf den bei der Rückkehr ein Haftbefehl wartet und der für viele Jahre in einem tunesischen oder türkischen Gefängnis verschwinden wird? Für den das möglicherweise das Todesurteil ist?

Was empfinden Sie in solchen Momenten?

Trauer und Ohnmacht. Aber man muss eine Balance finden. Sich mit jedem Schicksal total zu identifizieren, würde bedeuten, irgendwann selbst daran zugrunde zu gehen. Aber es besteht auch die Gefahr, abzustumpfen und die Sensibilität zu verlieren.

Verspüren Sie bereits Anzeichen davon?

Im Augenblick noch nicht. Aber die Gefahr besteht auch nicht mehr. Denn mit 65 Jahren werde ich das Pensionsalter erreichen, und es liegt nahe, dass demnächst ein Nachfolger meine Arbeit fortführen wird.

Mit was für einem Gefühl sehen Sie Ihrem Abschied entgegen?

Mit einem lachenden und einem weinendem Auge. In letzter Zeit habe ich die Situation im Abschiebegewahrsam doch als sehr belastend empfunden. Seit zwei Monaten kommt diese Haftanstalt ja nicht mehr aus den Schlagzeilen heraus. Da war der lange Hungerstreik, die Misshandlung eines Häftlings, diese Herzinfarktgeschichte …

bei der ein Häftling erst nach vier Stunden behandelt wurde. Dass Sie ihren Abgang planen, wird bei der Ausländerbehörde Jubelstürme auslösen. Wegen Ihrer Parteilichkeit sind Sie bei der Polizei ja nicht gerade beliebt.

Ich bin schon öfters gefragt worden: Sie sind doch schon alt, wann hören Sie denn auf? Ich verstehe diese Frage auch, denn häufig wirke ich in der Anstalt tatsächlich wie Sand im Getriebe. Das will ich auch sein. Aufgrund meiner DDR-Biografie habe ich immer darauf bestanden, meine Arbeit selbst zu definieren. In der DDR hat man ja am laufenden Band versucht, den Pfarrern vorzuschreiben, wie wir unsere Arbeit zu verstehen hätten. Dasselbe passierte zu meinem Entsetzen, als ich im Jahr 2000 in Grünau anfing. Ein hoher Westberliner Beamter präsentierte mir ein fertiges Konzept, wie ich meine Arbeit zu verstehen habe. Da war er bei mir am Falschen.

Wie verstehen Sie denn Ihre Arbeit?

Der Begriff Seelsorge klingt etwas antiquiert. Ich verstehe darunter vor allem Begleitung von Menschen in Extremsituationen. Meine Aufgabe ist es definitiv nicht, die Häftlinge dahingehend zu beeinflussen, ihre Situation so zu akzeptieren. Eine Person besteht immer aus Leib und Seele. Ähnlich wie ein Arzt mache ich als Erstes eine Anamnese. Ich schaue mir den Haftantrag der Ausländerbehörde und die Haftbegründung des Amtsgerichts an. Ich führe dann aber nicht nur Gespräche, sondern versuche auch, konkret zu helfen.

Aber auch Sie kommen immer wieder an den Punkt, dass die Häftlinge abgeschoben werden.

Das stimmt nicht. 40 Prozent der Leute kommen aus dem Abschiebegewahrsam wieder heraus.

Liegt das an Ihrem Engagement?

Damit will ich mich nicht alleine brüsten. Häufig hat das ganz sachliche Gründe. Meist stellt sich heraus, dass die Personen nicht abgeschoben werden können. Mein Hauptvorwurf gegenüber der Ausländerbehörde ist, dass man das auch klären könnte, bevor man sie in Haft steckt.

Empfinden Sie ein Gefühl von Triumph, wenn die Flüchtlinge hier bleiben können?

Triumph ist ein schlechter Ausdruck, aber Genugtuung fühle ich schon. Ich führe ja keinen Kampf gegen die Ausländerbehörde. Ich kämpfe gegen Ungerechtigkeit.

So eine Arbeit ist ziemlich aufreibend: Woher nehmen Sie Ihre Kraft?

Aus mir selbst und meinem Glauben, aber auch aus einem Netzwerk – dem Flüchtlingsrat, der Initiative gegen Abschiebehaft. Die machen ja fleißig Besuche bei den Häftlingen. Aber auch bei den migrationspolitischen Sprechern und Abgeordneten, die ab und zu eine kleine Anfrage starten, erfahre ich Hilfe.

Sie haben keine Familie, bei der Sie auftanken könnten?

Nein, man lernt, vieles mit sich selbst zu besprechen. Es gibt Tage, da mache ich im Abschiebgewahrsam zwanzig Besuche und erfahre dabei mindestens zwölf neue Schicksale. Ich wohne in einer kleinen Eigentumswohnung in Spandau. Die zweistündige S-Bahn-Fahrt von Grünau nach Hause hilft mir, etwas Ordnung in meine Gedanken zu bringen, um nicht völlig aufgewühlt ins Bett zu fallen. Aber es gibt auch Dinge, die einen nicht loslassen. Dinge, bei denen eigentlich etwas getan werden müsste, aber nichts getan werden kann.

Woher kommt Ihr Engagement gegen Ungerechtigkeit?

Auch das hat mit meiner DDR-Geschichte zu tun, aber nicht ausschließlich. Ich kann es auf den Tod nicht leiden, wenn nach zweierlei Maßstab gemessen wird, wenn Menschen Chancen verweigert werden. Das ist für mich ein ganz wichtiger Wert. Jeder Mensch sollte eine Chance haben, unabhängig von seiner politischen Einstellung und Volkszugehörigkeit. Man bekommt keinen Frieden, wenn man nicht gleichzeitig für Gerechtigkeit eintritt. Beides gehört auch in der Bibel zusammen.

Wie sind Sie dazu gekommen, Theologie zu studieren?

Eigentlich wollte ich Sprachwissenschaftler werden. Aber das Studium hätte ich nur machen können, wenn ich in den Westen gegangen wäre. Das ging 1958 ja noch, als ich Abitur gemacht habe. Ich erinnere mich, wie meine Klasse jeden Tag leerer wurde. Man kam morgens in den Klassenraum und wieder war ein Platz frei. Ein paar Tage später kriegte man dann eine Karte aus Heidelberg, auf der stand: „Ich bin angekommen.“

Sie haben sich damals ganz bewusst für die DDR entschieden?

Ja. Ich war der Meinung, dass sie doch das progressivere Modell von Deutschland war. Den antifaschistischen Ansatz – wie ich ihn zumindest verstanden habe – fand ich überzeugend. Mit dem Mauerbau 1961 war aber auch dieser Traum ausgeträumt.

Ein prägendes Erlebnis in Ihrem Leben war die Selbstverbrennung ihres Amtsbruders Oskar Brüsewitz 1976 in Zeitz.

Oskar ist durch die Machenschaften der Stasi in den Tod gedrängt worden war. Das war für mich ein weiterer Beweis, wie unmenschlich und unreformierbar dieses System war. Danach bin ich selbst von der Stasi als „operativer Vorgang“ eingestuft worden, weil man davon ausging, dass ich Oskars Selbstverbrennung mit geplant hatte. Meine Akte trug seitdem den Untertitel „Untergrund“. In Wirklichkeit war ich alles andere als ein Untergrundkämpfer.

Was waren Sie dann?

Grenzgänger trifft es besser. Ende der 80er-Jahre habe ich in der Kirchengemeinde in Treptow an der Seite meines Kollegen eine Gruppe von Ausreisewilligen betreut. Das waren Leute, die in massive wirtschaftliche Not gedrängt wurden, weil sie einen Ausreiseantrag gestellt hatten. Daraus sind dann die so genannten „Sonntagsgespräche“ geworden – ein Forum, in der die ganze Bandbreite der Beschwernisse in der DDR erörtert wurde. Als Grenzgänger fühlte ich mich aber auch innerhalb der Kirche. Die Kirchenleitung sah die Sonntagsgespräche mit gemischten Gefühlen. Seelsorge, natürlich – aber muss man es denn auf diese Weise machen, hieß es.

Nach der Wende haben Sie ein neues Betätigungsfeld gefunden.

Ein Teil unseres damaligen grün-ökologischen Netzwerkes „Arche“ hatte sich ganz speziell mit Menschenrechtsverletzungen in der DDR beschäftigt. Nach dem Mauerfall war diese Arbeit natürlich beendet. Dann platzte eines Tages mitten in unsere Diskussion die Nachricht, dass auf der Kirchentreppe einige „Penner“ sitzen – wir grenzten ja an Kreuzberg und Neukölln. Die hatten wir noch nie gesehen. Sie saßen mit ihren Bierdosen auf unseren Stufen, und wir kamen ins Gespräch. Dann sagte die Gruppe plötzlich: „Das ist es.“ Daraus ist die erste Wärmestube in Ostberlin hervorgegangen.

Die gibt es ja immer noch …

… und ist noch immer gut besucht. Leider. Parallel dazu habe ich mich um das Clearing-Center für unbegleitete ausländische Jugendliche gekümmert, also um jugendliche Flüchtlinge, die hier aufgegriffen wurden. Damals kamen sie noch nicht direkt in Abschiebehaft. So bin ich dann zur Flüchtlingsarbeit gekommen.

Treibt die Ellenbogengesellschaft einen Einzelkämpfer wie Sie nicht fast zum Wahnsinn?

So allein bin ich ja auch wieder nicht. Ich kenne viele Leute, denen es ein Anliegen ist, gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen. Aber die Gleichgültigkeit ist ein großes Problem: Schlimm ist nicht, ob du warm bis oder kalt, aber wenn du lauwarm bist. So steht es auch in der Bibel.

Was planen Sie für die Zukunft?

Ich bin der Flüchtlingsarbeit inzwischen so verbunden, dass ich mich ehrenamtlich weiter engagieren werde. Ein echtes Tabuthema in dieser Gesellschaft sind die so genannten „Sans-Papier-Leute“. Ich vermeide das Wort „illegal“, also Leute, die kein Aufenthaltsstatus haben und faktisch Nobodys sind, die in keiner Statistik auftauchen und nirgendwo gesehen werden. Die brauchen Menschen, die sie im Schatten unterstützen.

Noch sind Sie im Amt und müssen sich mit den Behörden herumschlagen. Ohne den Innensenator läuft in der Berliner Ausländerpolitik gar nichts. Was halten Sie von Ehrhart Körting?

Im Vergleich mit seinen Vorgängern Jörg Schönbohm und Eckart Werthebach erlebe ich Herrn Körting als den aufgeschlossensten und gesprächsbereitesten Innensenator. Es sind ja tatsächlich Verbesserungen im Vollzug der Abschiebehaft in Gang gekommen. Enttäuschend ist jedoch, dass Herr Körting eine relativ hohe Zahl der Vorschläge der Härtefallkommission abgelehnt hat – aus völlig unverständlichen Gründen. Damit lässt er eine Kommission, die aus sehr kompetenten Mitgliedern besteht, einfach ins Leere laufen.

Sind Sie eigentlich der Meinung, alle Flüchtlinge sollten in Deutschland Asyl erhalten?

Die These, „das Boot ist voll“, habe ich immer für einen Mythos gehalten. Die Zahl der Flüchtlinge geht immer weiter zurück. Den Großteil der Last der Flüchtlinge tragen ohnehin nicht die reichen Länder des Nordens, sondern die des Südens, die sowieso schon am Rande des Zusammenbruchs stehen. Ich meine nicht, dass man alle einladen muss, hierher zu kommen. Es würden sowieso nicht alle kommen. Aber für die, die bereits hier sind, müssen wir Verantwortung tragen.