: In mobilen Immobilien
Mit den Ferien kehren auch etwa 500.000 Dauergäste auf die Campingplätze der Republik zurück, um den Zumutungen der Moderne mit der Kunst des übersichtlichen Hierbleibens zu entgehen
VON CLEMENS NIEDENTHAL
Warum in die Ferne schweifen, das Gute liegt so nah. Oder zumindest etwas, das so weit ganz okay ist. Denn dieser Text handelt nicht von großen Utopien. Er handelt von kleinen Fluchten. Er handelt vom Dauercampen. Von einem insofern schizophrenen Lebensstil, als dass etwas Mobiles, der Wohnwagen nämlich, zur Grundbedingung eines radikal immobilen Freizeitverhaltens wird. Die Räder werden zu Wurzeln. Und das Ungewisse einer Reise eingetauscht gegen die Gewissheit eines sicheren Hafens. Herr H. aus K. zum Beispiel kommt seit 25 Jahren jedes Wochenende zu seinem Campinggrundstück in Nassau an der Lahn. Der C-Klasse-Benz des Rentners hat längst keine Anhängerkupplung mehr. Sein Wohnwagen gehört zu den 215.000 in Deutschland, die nicht einmal mehr über eine Straßenzulassung verfügen.
Während Reisemobil und Campingbus a priori einfordern, an jedem Ort der Welt zu Hause zu sein, begnügt sich der Wohnwagen immer öfter damit, einfach nur (ein) Zuhause zu sein. Reisemobilen gibt man die Namen der großen Entdecker mit auf den Weg. Sie heißen Sven Hedin, James Cook und Marco Polo. Der Wohnwagen hingegen fühlt sich in bekannter Umgebung am wohlsten. Er wird von seinen Herstellern Landhaus, Hobby Prestige oder Baronesse getauft. Für einen Wohnwagen ist der Weg immer öfter nur Weg, kaum mehr Ziel. Und das Glück nur einen Steinwurf weit weg. Durchschnittlich nicht einmal 50 Kilometer, so eine Marktanalyse aus den 90er-Jahren, liegen die heilen Wohnwagenwelten von den Mietskasernen und Doppelhaushälften der Camper entfernt; zumeist in citynahen Erholungsgebieten, an Bagger- oder Naturseen, in wenig spektakulären Mittelgebirgswogen. Manchmal auch nur irgendwo am Stadtrand, wo zum Schrebergarten einzig die befestigten Gartenhäuschen und die Erdbeerstauden fehlen.
Geschätzte 500.000 Dauercamper – ein seit Jahren konstanter, sogar leicht steigender Wert, der etwa der Einwohnerzahl von Nürnberg entspricht – frönen in Deutschland gegenwärtig ihrer Freude am Hierbleiben. Lange schon genug, um Auslöser gesellschaftspolitischer Polemiken zu werden. Bereits 1975 brandmarkt der Spiegel die Dauercamper als Hort restaurativer Biederbürgerlichkeiten: „Der E-Lokfahrer Voss aus Harburg ist Dauercamper. Er zahlt 600 Mark Jahrespacht für 160 qm Waldboden, den er im Laufe der vier Jahre so satt gemacht hat, dass die Rabatten schwarz wie getorfte Gräber sind, dass die Knollenbegonien fast übertreiben.“ Und weiter: „Für Leute vom Schlage Voss ist die Bezeichnung Dauercamper nur eine sportliche Beschreibung für Schrebergärtner, bei denen sich das Verbot, Gemüse anzubauen, in einer Tyrannei des Zierrats Luft verschafft.“ In diesen Zeilen findet sich bereits vieles, was den Diskurs über die Dauercamper von nun an prägen sollte. Oder anders gesagt: Aus der im Spiegel attestierten „Tyrannei des Zierrats“ wurde bald eine Tyrannei gegen die Dauercamper. In der Figur des Lokomotivführers Voss spiegeln sich alle Vorurteile, mithin aller Hass, den eine sich als aufgeklärt und liberal verstehende Gesellschaft gegen jene Derivate spießbürgerlicher Ordnungsliebe und Disziplinversessenheit in sich trug, die es im Milieu der Dauercamper auszumachen galt.
Ein „Opa Voss“ als untoter Wiedergänger aus den Schützengräben eines gerade verlorenen Krieges, der sich nun in seiner Campingidylle eingemauert hat. RTL hat diesem Phänomen schon länger eine lustige Serie gewidmet. Wobei die „Camper“ – mit dem allerdings wirklich unangenehmen Willy Thomczyk, dem aus der Grillwurstwerbung, in der Hauptrolle – gerade von den Dauercampern selbst gerne als stolzes Bekenntnis zum eigenen Lebensstil begriffen werden. Eines bleibt festzuhalten: Schon in den mittleren Siebzigerjahren hatten sich die Dauercamper, wenn schon nicht im konkreten geografischen Sinne, so doch auf eine metaphorische Reise begeben.
Eine Reise, die weit wegführen sollte von den neuen Inszenierungen einer sich wandelnden Bundesrepublik Deutschland. Weg von der progressiven Münchener Olympia-Architektur. Weg von den gesellschaftlichen Brüchen zwischen Studentenrevolte und Ökologiebewegung, zwischen sozial-liberaler Aufbruchstimmung und der beginnenden Fragmentierung der Lebensstile. Jene „neue Unübersichtlichkeit“, die Jürgen Habermas einmal den spätmodernen Gesellschaften attestiert hat, scheint an den akkurat gestutzten Grasnarben der Campinggrundstücke unbemerkt vorübergegangen zu sein.
Hier wirkt alles noch recht übersichtlich. Und das im Sinne der tradierten Freizeitvergnügen einer traditionellen Industriegesellschaft. Hier wird sich selbstbestimmt erholt, auch wenn am anderen Ende der Wochenendes keine zehrende Industriearbeit mehr wartet. Auch wenn es der ganz normale Alltag ist, der sich in und um die Wohnwagen dupliziert. Brötchen holen, Sportschau gucken, Rasen mähen.
Ist der Campingplatz also längst auch zum Fluchtpunkt geworden, zum Ausweg aus einer postfordistischen Gegenwart, die viele, für Viele zu viele Optionen bereithält? Irgendwo da draußen am See und im Grünen bei Kartoffelsalat, Grillwürstchen und Dosenbier scheint das Universum kleiner. Und übersichtlicher. Wenn man Glück hat, dann kontrolliert auch niemand den abgelaufenen Angelschein. Oder den Dispo, in dem man längst knietief steckt.
Nein, (Dauer-)Camping ist nicht Camp im Susan-Sontag’-schen Sinne. Zwischen den munter gestreiften Vorzelten, den Geranienkübeln und den Jägerzaunumfriedungen wird kein ironisches Spiel mit den Dingbedeutsamkeiten getrieben.
Weshalb es auch falsch wäre, den Dauercampern einen Hang zum offensichtlich Kitschigen zu attestieren – jenem deutschsprachigen Ambivalent zum Begriff des Camp, um dessen Analyse sich die US-amerikanische Kulturphilosophin Susan Sontag verdient gemacht hat. Bei den beschriebenen Ästhetisierungsstrategien der Dauercamper handelt es sich keineswegs um Bad Taste, nicht um schlechten Geschmack also. Es handelt sich schlicht um Geschmack.
Anders gesagt: Auf den vielen Campingplätzen stehen die vielen Gartenzwerge nicht vor den vielen Wohnwagen, um von einer ironischen Selbststilisierung ihrer Besitzer zu erzählen. Sie stehen dort zur Zierde wie zur Manifestation eines Lebensstils. Sie stehen dort, weil es denen, die sie aufgestellt haben, so gefällt.
Oder, um es mit dem tschechisch-brasilianischen Philosophen Vilém Flusser zu sagen: „Zweifellos bietet der Wohnwagen selbst keinen schönen Anblick, aber vielleicht sind Schönheit und Güte keine gemeinsame Voraussetzung für das Glück.“
Vilém Flussers Hoffnungen indes, im Inneren der Wohnwagen „den Neuen Menschen von morgen“ zu begegnen, haben die Dauercamper jäh negiert. Entgegen Flussers Hoffnung sind sie nicht zu „glücklichen Nomaden“ geworden. Wahrscheinlich aber zu gar nicht mal so unglücklich Hiergebliebenen. Zumindest das muss man den Dauercampern lassen – auch wenn man es nicht teilen mag.