„Festival der Kontraste“

EXPERIMENTELLE MUSIK Seit knapp 20 Jahren veranstalten Jean-Hervé Peron und seine Partnerin Carina Varain auf ihrem Hof im Dorf Schiphorst Europas größtes Live-Event für experimentelle Musik. Ein Gespräch über Monster, Illusionen und Utopie

■ 1949 in Frankreich geboren, gründete 1970 in Hamburg die Krautrockband Faust, die heute immer noch besteht. Seit Mitte der 90er organisiert er mit seiner Partnerin Carina Varain das Avantgarde-Festival auf einem ehemaligen Gasthof im schleswig-holsteinischen Schiphorst.Foto: Michael S. Eisenberg

INTERVIEW ROBERT MATTHIES

taz: Seit knapp zwanzig Jahren veranstalten Sie mit Ihrer Partnerin Carina Varain im Dorf Schiphorst das Avantgarde-Festival, Herr Peron. Wie ist die Idee entstanden?

Jean-Hervé Peron: Entstanden ist die Idee aus steuerlichen Gründen. Ich habe früher Kulissen gebaut für Film und Fernsehen, die Firma ging ganz gut und ich habe mir gedacht: Ehe das Geld ans Finanzamt fließt, könnte ich es für etwas ausgeben, das uns Spaß macht. Wir haben eine großartige Fête gemacht und die Sonnenwende zelebriert, die Leute waren begeistert. Wir haben einen Verein gegründet, Geld gab’s nicht mehr, wir wollten das Festival aber weiterführen. Dann habe ich mich spezialisiert: Ich bin Mitglied der Gruppe Faust und immer begeistert von Musik und Kunst anderer Art und habe gesagt: Das wird jetzt eine Plattform für Leute, die wenig Chancen haben, sich zu präsentieren.

Sie sprechen vom Festival gern als Monster, das Sie jedes Jahr auffrisst. Wie lange sind Sie mit dem Festival beschäftigt?

Es ist ein ganz liebesvolles und ganz schreckliches Monster. Nach dem Festival geht es kurz schlafen, es ist satt, hat Leib und Seele vieler Leute sehr erregt und zermürbt. Im Winter fragen dann die ersten Künstler: Wann geht es los nächstes Jahr? Dann müssen wir anmelden, Subventionen beantragen, die wir nicht bekommen, Anlagen mieten und das Monster ist wieder hellwach. Ungefähr vier Monate sind Carina und ich voll beschäftigt. Zuerst recherchieren wir das Line-up, dann kommt die Büroarbeit, endlose Excel-Tabellen, Leute anrufen und fragen: Hast du verstanden, dass wir keinen Soundcheck haben, was bringst du für Anlagen mit, wie viel Leute seid ihr? Das kulminiert im Aufbau in der Endphase, die sehr schön ist, aber sehr intensiv.

Stellen Sie das Festival immer noch allein auf die Beine?

Am Anfang waren wir zu zweit und sind daran ziemlich kaputtgegangen. Mittlerweile assistieren uns ganz viele Leute und ich habe gelernt, zu delegieren. Wir haben kompetente Leute gefunden, Idealisten, die auch etwas können, sonst wäre das nicht mehr möglich. Wir werden immer älter und das Festival wird immer aufwendiger.

Jahrelang haben Sie das Festival ohne jegliche Subventionen gestemmt, jedes Jahr Miese gemacht. Bekommen Sie mittlerweile finanzielle Unterstützung?

Am Anfang war es eine rein idealistische Sache, wir hatten Geld und haben es gern ausgegeben. Dann war das Geld nicht mehr da und Carina Varain hat wie eine Mäzenin das Festival unterstützt, hat ihren Ruf und ihre finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt. Irgendwann haben alle Glocken geläutet und wir haben gesagt: So geht es nicht mehr. Wir haben Sponsoren gefunden, die uns mal zehn Kisten Bier spendieren oder einen Hundert-Euro-Schein, einmal frei tanken. Aber auch Kleinvieh macht Mist. Subventionen haben wir sehr sparsam genommen. Vor allem bekommen wir immer mehr physische Unterstützung, die Gemeinde stellt uns das Gemeindehaus zur Verfügung, die „Eingeborenen“ in Schiphorst und der Umgebung Zimmer für unsere Gäste. Wir sind klüger geworden und die Anschaffungen aus all den Jahren zuvor zeigen jetzt Wirkung.

Einer Ihrer Leitsätze ist das direkte Miteinander von Künstlern und Publikum, es gibt keinen VIP- und keinen Backstagebereich. Was passiert, wenn man die Grenze zwischen Produzenten und Konsumenten einreißt?

Wir haben ein ganz interessantes Phänomen erlebt. Die Illusion bleibt während der Performance bestehen, der Künstler steht als Übermensch und Paradiesvogel auf der Bühne, man bewundert ihn, projiziert sich in ihn hinein. Das ist auch schön. Noch schöner ist aber die Desillusion, keine traurige Desillusion. Die meisten bleiben drei Tage, man fühlt sich wohl hier. Dann sieht man plötzlich am Frühstückstisch neben sich den Künstler, der am Abend zuvor noch unerreichbar war, und er erzählt von seinen acht Kindern und dass er eigentlich viel lieber Fliesen legt, als Musik zu machen. Die Kommunikation wird sehr tief, man erreicht eine andere Ebene. Sowas funktioniert nur, wenn es über mehrere Tage geht.

Letztes Jahr gab es einen Workfloor, auf dem „Arbeiter“ wie Schweißer, Maler oder Instrumentenbauer ihre Arbeit gezeigt haben. Welche Möglichkeiten zum spontanen Mitmachen gibt es dieses Jahr?

Es gibt seit drei, vier Jahren zwei offene Räume, zwei Plattformen, die Annexe und den Workfloor. Nachdem die Annexe erstaunlich gut funktioniert hatte, dachte ich mir, es fehlt noch dieses Physische, wo Funken durch die Luft fliegen, Steine gemeißelt werden, der Geruch. Das hat sofort funktioniert. Es waren Bildhauer da, Maler haben live gemalt, eine Frau aus Frankreich hat sehr abstrakte Figuren geschweißt. Man konnte sehen, wie Radio live entsteht, ein kleines Piratenradio, das niemanden stört. Da kann man auch mitmachen. Dieses Jahr haben wir zum Beispiel ein Schachturnier, mit Manuel Richter alias xabec kann man Platinen löten und seinen eigenen Mini-Moog zusammenbauen. Der britische Fotograf Ian Land baut ein Fotolabor auf.

Letztes Jahr war in einer Scheune am Dorfteich eine dritte Bühne aufgebaut. Wächst das Monster ins Dorf hinein?

Nein, das Familiäre und Intime des Festivals erträgt es nicht, wenn man es auseinanderreißt. Es entstehen „drei Tage Utopia“, ein unmöglicher Mikrokosmos. Das würde dann nicht mehr funktionieren. Es entstünde ein Leck: Wir kochen nicht mehr zusammen.

Schiphorst ist eine kleine 500-Seelen-Gemeinde. Wie ist das Verhältnis der Dorfgemeinschaft zum Festival?

Das Dorf toleriert und akzeptiert uns. Die Nachbarn wissen, von Donnerstag bis Montag gibt es viel Bewegung, fremde Leute, Aufregung. Von Begeisterung kann man aber nur begrenzt sprechen, das Wort Avantgarde schreckt ab. Manche aber wollen unbedingt mitarbeiten, das gibt es auch. Die freuen sich, mit Engländern, Spaniern und Japanern Bekanntschaft zu machen. Der Bürgermeister ist sehr kooperativ, er wird dieses Jahr sogar eine kleine Ansprache halten. Ich freue ich mich sehr, dass es nun diesen offiziellen Charakter bekommt. Ich bin selbst in der Freiwilligen Feuerwehr, seit wir vor 20 Jahren hierher gezogen sind und die Kameraden helfen uns, wenn es brenzlig wird – im Sinne von: es ist viel zu tun.

„Das Dorf akzeptiert uns, von Begeisterung kann man aber nur begrenzt sprechen“

Sie präsentieren dieses Jahr über 90 Künstler aus 14 Ländern. Was wird man am Wochenende hören?

Ich spreche immer gern von einem „Festival der Kontraste“. Auf der einen Seite findet man dann Maria and the Mirrors, eine Gruppe aus Großbritannien, zwei junge Damen mit sehr fulminanter Erscheinung mit einem Typen, der Sound dazu macht, sehr jung ist das Ganze, intelligenter Elektronik-Punk. Auf der anderen Seite gibt es den 83-jährigen Charlemagne Palestine, der Urmensch des Minimalismus, mit einer Vitalität und einem Ausdruck der Freude an seiner Kunst, das ist unbeschreiblich. Der hat eine ganze Plüschtier-Menagerie dabei, trinkt auf der Bühne gepflegt seinen Cognac und reist mit uns durch unmögliche Töne. Und dazwischen Professor Lutz Hieber, der ein Referat hält über den Sinn des Avantgardistischen in der Politik.

Traditionell treten Sie auf dem Festival mit Ihrer Band Faust auf. Letztes Jahr haben Sie das Album „Something dirty“ veröffentlicht. Was gibt es dieses Jahr zu hören?

Dieses Jahr haben wir ein neues Projekt aufgenommen, das wir zum Teil präsentieren werden. Ich habe mit „meinem“ Schlagzeuger, meinem treuen Freund Werner „Zappi“ Diermaier Grundspuren aufgenommen, wir laden all die Freunde, die uns in den letzten vierzig Jahren begleitet haben, ein, ihr Salz, ihre Kunst dazuzugeben.

Letztes Jahr haben Sie 46 Mitspieler für ein Betonmischerorchester gesucht. Haben Sie die gefunden?

Die Idee war erst: ein Philharmonieorchester und ein Betonmischer. Das habe ich noch nicht geschafft. Also wollte ich den Spieß umdrehen: 46 Zementmischer mit einem klassischen Musiker. Ich habe leider nur sieben Zementmischeristen gefunden. Dieses Jahr hoffe ich auf mehr. Nathalie Forget kommt mit ihren Ondes Martenot und wird uns begleiten. Bringt euren Zementmischer mit, seid am Sonntag um spätestens zehn Uhr da und es wird etwas Wunderbares passieren!

■ Schiphorst: Fr, 22. 6. bis So, 24. 6., Steinhorsterweg 2; Infos und Programm: www.avantgardefestival.de