OFF-KINO
: Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet

Georges Franju, einst zusammen mit Henri Langlois Mitbegründer der Cinématheque française, gehörte zu den singulären Gestalten im französischen Kino. Was ihn interessierte, war vor allem das Befremdliche im Alltäglichen, und wer beispielsweise jemals seinen Kurzfilm „La première nuit“ gesehen hat, in dem ein verlorenes Kind nachts in der Pariser Métro mit der U-Bahn fährt, begreift schnell, was Franju damit meinte: Ein ganz alltäglicher Ort, den täglich zigtausende Menschen ohne groß darüber nachzudenken nutzen, wird – ohne dass viel passiert – allein durch die veränderte Tageszeit, die unbekannten nächtlichen Betriebsabläufe sowie eine kunst- und geheimnisvolle Beleuchtung in einen zutiefst unheimlichen, zugleich aber auch magischen Ort verwandelt.

In ganz ähnlicher Weise ging Franju an den „Horrorfilm“ heran: Sein Schurke in „Les yeux sans visage“ (Augen ohne Gesicht, 1959) ist deshalb kein zähnefletschender Irrer, sondern ein berühmter Arzt (Pierre Brasseur) mit einem gravierenden familiären Problem: Seine Tochter Christiane (Edith Scob) ist bei einem Autounfall grässlich verunstaltet worden, und Professor Genessier, ein Experte für die Gewebeverpflanzung beim Menschen, wird immer wieder versuchen, ihre Gesichtszüge zu rekonstruieren. Leider benötigt er dafür die Gesichtshaut anderer junger Frauen. Noch bevor die Geschichte richtig losgeht, findet man bereits eine Leiche, deren verstümmeltes Gesicht Wundränder aufweist, die wie mit einem Skalpell geschnitten sind. Franjus Film zieht keine Spannung aus Krimi-Ermittlungen, er spekuliert nicht auf Splatter (obwohl es eine blutige Operationsszene gibt) und besitzt auch keine Schreckmomente: Angst macht das, was nicht passiert und das Warten auf das, was vielleicht passieren könnte. Allein die mit ihrer starren Gesichtsmaske in einem weißen Hausmantel mit hochgeschlagenem Kragen durch das große Herrenhaus wandernde Christiane ist ein – in Ermangelung eines besseren Begriffs muss man wohl sagen – poetischer Albtraum und beständiger stummer Vorwurf. (OmeU, 21. 6., Arsenal)

Eigentlich haben sich die Filme von Hayao Miyazaki immer auch an Kinder und Jugendliche gerichtet. Der Einzige seiner Filme, der jedoch explizit auf ein Publikum im Vorschulalter abzielt ist „Ponyo – Das große Abenteuer am Meer“: Hier hat Miyazaki seine sonst so komplex gestalteten Geschichten entsprechend vereinfacht: In der Geschichte um den 5-jährigen Sosuke und das Goldfischmädchen Ponyo, die nach einem Tsunami in überschwemmter Landschaft nach Sosukes Mutter suchen, spiegelt Ponyos naiver und dabei ausgemacht enthusiastischer Blick auf eine Alltagswelt, die sie nicht kennt, die Erfahrungswelten von Kleinkindern wider. In diesem Rahmen spinnt Miyazaki sein Dauerthema von der Zerstörung der Natur (und der Gefahr, dass diese zurückschlägt) weiter, entdeckt mit greisen Damen aus einem Pflegeheim die Hoffnungen des Alters und legt die Rettung der Welt einmal mehr in weibliche Hände. (23.–24. 6., Sputnik) LARS PENNING