Fünf ahnungslose Weise

WIRTSCHAFTSPROGNOSEN Was die Zukunft bringt – wirtschaftlich? Einst fand man dies mit Astrologie heraus, heute mit Orakeln von Ökonomen. Was sie eint? Religiöse Inbrunst!

VON KAI SCHLIETER

Was die Zukunft bringt, offenbart sich den Azande im Überlebenskampf eines Huhns. Ihre Welt erklärt sich darin, ob das Tier das verabreichte Gift überleben wird oder nicht. Auf die Azande, einen afrikanischen Stamm, dürfte daher die Präsentation des Jahresgutachtens des Sachverständigenrats der Bundesregierung obskur wirken: Fünf blasse Weise, die sich bei ihren volkswirtschaftlichen Prophezeiungen auf nichts als auf Zahlen verlassen. Was allerdings beiden gemein ist: Es geht um Prophetie – also um eine Art der Religionsausübung.

Soziologen, die nach der Wurzel des Glaubens nicht im Himmel suchen, interessiert folgende Frage: Warum gibt es Religion, seit es Menschen gibt? Eine der Schlussfolgerungen des Wissenschaftstheoretikers Thomas Luckmann lautet: Religion muss etwas Basales über das menschliche Zusammenleben aussagen. Religion erfüllt demnach eine Funktion, die Menschen jahrtausendelang stetig nachfragen. Islam, Christentum oder Buddhismus – die Weltreligionen verkörpern nur das institutionelle Brimborium, das gerade Anhänger findet. Die Funktion aber, die Religion unabhängig von ihrer Erscheinungsform erfüllt: Sie schafft eine Ordnung, die den Vorteil hat, unhinterfragbar zu sein. Kein Teflon-Relativismus. Religion schafft letzte Sicherheit und Orientierung. Sowohl die Azande wie auch die Wirtschaftsweisen reagieren auf diesen Aggregatzustand menschlichen Daseins. Nur die Requisiten, mit denen die Wahrsager ihrem Metier nachgehen, sind wandelbar.

Um 1650, in der Blütezeit der Wahrsagung, wurden 52 Prognoseverfahren gezählt: von der Akromantie (Weissagung mit Luft) bis zur Tyromantie (Weissagung mit Käse). Noch 350 Jahre später, zu Zeiten des kryptischen US-Notenbankchef Alan Greenspan, bedeuteten metopomantische Fähigkeiten, also das Vermögen, Stirnfalten zu deuten, einen geldwerten Vorteil. Sein orakelhaftes Wesen verschaffte ihm den Namen: Greenspeak. Geradezu ahistorisch wären Annahmen, wirtschaftliche Prognosen hätten wegen ihrer Methodik nichts mit Hokuspokus zu tun. In der Deutungsmatrix aufgeklärter Europäer wirkt die naturwissenschaftlich fundierte Prognose schlicht plausibler als die Zuckungen eines verendenden Huhns. Das Gleiche gilt umgekehrt.

Quantitative Prognosen der Volkswirtschaft gibt es in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, seit 1963 erstellt der einflussreiche Sachverständigenrat seine Gutachten für die Regierung. Ullrich Heilemann von der Universität Leipzig hat die gesamtwirtschaftlichen Prognosen der vergangenen 30 Jahre in Deutschland untersucht. Das Ergebnis: „Die Treffsicherheit hat sich praktisch nicht verbessert.“ Heilmann bestätigt mit seiner Untersuchung die These einer früheren Arbeit, „dass Prognosen mit falschen Annahmen denen mit richtigen überlegen sind“.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Markus Spiwoks von der Fachhochschule Wolfsburg. In seinem findigen Aufsatz „Universelle stilisierte Fakten bei Finanzmarktprognosen“ legt der Wissenschaftler dar, „dass Finanzmarktprognosen nicht etwa einen Blick in die Zukunft gewähren, sondern lediglich Ausfluss der mangelnden Prognosekompetenz sowie der Reputationsstrategien der Prognostiker sind.“ Er zeigt, dass die DAX-Prognosen des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) stets der tatsächlichen Entwicklung hinterherlaufen. „Die Prognostiker haben also weniger die Zukunft als vielmehr die Gegenwart prognostiziert.“

Diese Tendenz trifft für alle bisherigen Kapitalmarktprognosen zu. Schlimmer noch: Die sogenannte naive Prognose besagt, dass das, was jetzt ist, auch in Zukunft so sein wird. Sie stellt also „den absoluten Nullpunkt der Prognosequalität dar“, so Spiwoks. Um Prognosezeitreihen statistisch beurteilen zu können, haben die Fachleute ein Werkzeug, das sie den „Theilschen Ungleichheitskoeffizienten neuer Art“ nennen. Spiwoks schreibt: „Empirische Untersuchungen zeigen, dass Zeitreihen realer Finanzmarktprognosen in beinahe allen Fällen U2 > 1 aufweisen.“ Übersetzt heißt das: Sie waren fast immer noch schlechter als naive Prognosen.

Als Lehman Brothers in sich zusammensackte, erwartete keiner der Wirtschaftsweisen den Beginn der folgenschwersten Wirtschaftskrise seit 69 Jahren. Sie blieben ihrer vierzigjährigen Tradition treu, die besagt, keine zuverlässigen Vorhersagen zu treffen. In ihrem Jahresgutachten 2008/2009 gingen sie von einer Stagnation von null Prozent aus. Der damalige Sachverständige der Bundesregierung, Bert Rürup, heute beim Finanzdienstleister AWD, sagte Mitte August 2008: „Für Deutschland ist dieses Jahr definitiv keine Rezession in Sicht.“ In den USA ging die Wirtschaft gerade den Bach runter. Sein Kollege, der Weise Wolfgang Wiegard, konnte Ende September noch keinen schweren wirtschaftlichen Abschwung sehen, Konjunkturpakete seien überflüssig.

Sie waren sich fast immer einig – im Zutreffenden wie im überwiegend Fehlerhaften: Ökonomen folgen jener Regel, die schon John Maynard Keynes entdeckt hatte und „Reputational Herding“ genannt wird. Demnach schadet nichts dem Ruf eines Analysten mehr, als eine andere Meinung als die seiner Kollegen zu vertreten – Herdentiere allesamt. Deswegen konnte zunächst auch Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, vor einem Jahr nur eine amerikanische Krise erkennen, von der Deutschland verschont bleiben würde. Das Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) kapitulierte Anfang des Jahres vor der Zukunft: „Sämtliche Prognostiker haben die Entwicklung in all ihrer Dramatik so nicht vorausgesehen“, so DIW-Chef Klaus Zimmermann. Das Institut hat seine Prognosetätigkeit bis 2010 eingestellt. SPD-Fraktionschef Peter Struck forderte bereits Ende 2008 die Abschaffung des Wirtschaftsweisengremiums: „Ich glaube denen kein Wort.“

Das war ein kluger Satz, denn es geht bei Wirtschaftsprognosen nicht um Wissen. Die Bereitschaft, an Zahlen zu glauben, ist in der Informationsgesellschaft einfach anschlussfähig. Ein Satz wie „Keine Ahnung, was demnächst passieren wird“ ist kein Honorar wert. Ein Astrologe geht heute bestenfalls als Schrat durch, in der Renaissance zählte man mit diesem Beruf zu den Meinungsführern.

Jede Form von Religion hat ihre Zeit. Kennzeichnend ist stets der alleinige Anspruch auf Weltdeutung. Eine Autorität in diesem Fach war früher die katholische Kirche. Ihr Glaube galt eine Zeit lang als Gewissheit und war als solcher unkenntlich. Bis ihre Erklärungsmodelle nicht mehr geglaubt werden wollten. Heute funktioniert die Kirche nur als ein Teil der Gesellschaft, nicht mehr als Zentrum.

Die Finanzkrise hat nun zu einer Erschütterung von stabilen Koordinaten der Volkswirtschaftslehre geführt. Die Ökonomen fechten derzeit eine Art Glaubensstreit aus, in dem es um die Bedeutung von Zahlen geht und in den Marktliberale wie Ordnungsfanatiker hineingezogen werden. Hier kämpfen Ketzer wider die Mathematisierung einer Erfahrungswissenschaft. In den letzten Jahren hatte sich in der Volkswirtschaftslehre zunehmend eine naturwissenschaftliche Deutungshoheit durchsetzen können. Deren Verfechter sind nun geschwächt, denn der Glaube an mathematische Modelle wurde durch die Finanzkrise erschüttert. Die vermeintliche Verwissenschaftlichung der Methoden, „mit möglichst hochgerüstetem Werkzeug zu arbeiten“, habe den Blick auf das Ganze verengt, schreibt der Ökonom und Soziologe Viktor Vanberg in seinem Aufsatz „Die Ökonomik ist keine zweite Physik“. Doch auch die Ordnungsökonomen und Keynesianer huldigen wie ihre Gegenspieler neoliberaler Prägung einer Steuerbarkeit von Konjunktur.

Thomas S. Kuhn, einer der bedeutendsten Wissenschaftstheoretiker des letzten Jahrhunderts, hat schon 1962 am Beispiel der Chemie, der scheinbar objektiven Laborwissenschaft schlechthin, veranschaulicht: Wissenschaft kann nicht wertfrei sein, Objektivität variiert mit der Messung und den Menschen. Wissenschaft basiert wie Religion auf einem unwissenschaftlichem, aber funktionalem Bedeutungsüberhang. Ein System, das ausschließlich Zweifel und Skepsis und nicht aber Gewissheit und Wahrheiten betonen würde, hätte sich kaum durchsetzen können, so der Harvard-Historiker Edward Grant.

Der Handel mit Gewissheit ist ein umkämpftes Geschäftsfeld der Religion. Im Katechismus der Katholischen Kirche zum Dritten Gebot von 1997 heißt es: „Sämtliche Formen der Wahrsagerei sind zu verwerfen: Indienstnahme von Satan und Dämonen, Totenbeschwörung oder andere Handlungen, von denen man zu Unrecht annimmt, sie könnten die Zukunft ,entschleiern‘.“ Was wissenschaftliche Prognosen ebenso wie die Orakel der Azande leisten: Sie bieten Orientierung, indem sie Wissen fingieren, wo nur Unwissen sein kann. Sie suggerieren, den Zufall eliminieren zu können. Beide bieten Modelle an, Unbestimmbarkeit in Ordnung zu verwandeln, und beide Deutungssysteme sind Instrumente, eine Unsicherheit des Menschen, der keine Instinkte, sondern nur Kultur hat, erträglich zu machen. In dem Sinne unterscheidet sich die Prognosefiktion einer Berechenbarkeit der Zukunft kaum von der Hexerei mit Hühnern.