Junge mit Gummistiefeln

Persönliche und historische Verluste verarbeitet der Berliner Musiker Paul Geigerzähler in seinem Album „Der Zeitstrahl ist gebrochen“

Von Peter Nowak

„Der Sozialismus mit menschlichen Antlitz wohnte jedenfalls nicht in Wandlitz“, lautet eine Strophe des Songs „Privilegien“ des Berliner Chansonniers Geigerzähler. Der Abgesang auf die SED-Nomenklatura, die in der Bungalowsiedlung Wandlitz am Rande von Berlin ihre Freizeit verbrachte, ist nicht die einzige DDR-Reminiszenz auf dem Album „Der Zeitzahl ist zerbrochen“.

Auf dem Album kann man auch die künstlerische Entwicklung von Geigerzähler beobachten. Der Krachpunk seiner Jugend trifft auf ruhige, fast balladenartige Lieder, die von einer Geige begleitet werden. Einige Chansons erinnern an den frühen Franz Josef Degenhardt.

Es sind 15 Songs über verlorene Sozialismusutopien und den Mut, trotzdem weiterzukämpfen. Schließlich heißt es in der letzten Strophe von Privilegien: „Heute würde der Direktor einer Fabrik nicht in 'nem Bungalow wohnen, sondern in einer Vorstadtvilla mit gigantischem Zaun, und zu hinterfragen würde sich das niemand mehr traun“.

In vielen Songs verarbeitet Geigerzähler biografische Erfahrungen. Er verbrachte seine ersten Kindheitsjahre in der DDR, „wo Pioniere Fahnen schwenken, alte Helden vorwärtsdenken“, wie es im Song „Glückliche Kindheit“ heißt. Dann kam die Wende, die Geigerzähler in „Phrasen und Staub“ verarbeitet: „Rote Phrasen in den Reden, brauner Staub unterm Radar“. Hier werden die berüchtigten Baseballschlägerjahre der frühen 1990er Jahre aufgerufen, als Neonazis nationalbefreite Zonen mit Gewalt durchsetzen wollten. Wie viele junge Linke aus der Provinz zog auch Geigerzähler nach Ostberlin und wurde Teil der HausbesetzerInnenbewegung.

Dort wurde er in den 1990er Jahren mit seiner Punkband Köterkacke bekannt. Auf dem Album erinnert Geigerzähler mit „Köterkacke reloaded“ an diese Frühphase seines musikalischen Werdegangs, als mehr gegrölt als intoniert wurde. Einem kürzlich verstorbenen Punkkollegen aus jenen Tagen ist der Song „Punk in Rest“ gewidmet. Sein Name wurde bewusst nicht genannt.

„Wer den Verstorbenen gekannt hat, weiß, wer gemeint ist. Ansonsten soll es eine Würdigung für die nicht wenigen Menschen sein, die in den letzten Jahrzehnten für Freiheit und Emanzipation eingestanden sind und heute nicht mehr leben“, erklärt Geigerzähler. „Ich kann nicht sagen, ob ihm das Lied gefiele und hab's trotzdem geschrieben: da sind noch ein paar gemeinsame Ziele, und die – die sind geblieben“, heißt es in dem sehr melancholischen Lied, das vielleicht noch auf manchen Beerdigungen gesungen werden wird.

Melancholisch ist auch der kurze Song „Mückenlarvensagen“. Der Text spricht über zwei Jungen, die mit Gummistiefeln im Schlamm eines Baches spielen. „Slavoj und Birtschek auch lange versunken, nur die Mückenlarven erzählen vielleicht noch davon“, heißt es am Ende fast märchenhaft. Nicht nur in dem Song wird deutlich, dass sich Geigerzähler in seinem neuen Album als Chansonnier mit großem philosophischen Tiefgang ausweist.

Das wird besonders deutlich in dem Song „Gestern morgen“, in dem Geigerzähler eine Textstelle aus dem gleichnamigen Buch der linken Autorin Bini Adamczak vertont. Dort philosophiert sie über die Vergangenheit und Aktualität des Kommunismus und nimmt dabei die katastrophalen Fehler der bisherigen Sozialismusversuche zur Grundlage. „Welche Revolution wäre in der Lage, nicht nur die grausame Herrschaft zu überwinden, sondern auch ihre erwartbare und erwartbar grausame Wiederkehr“, lautete die offene Frage an die HörerInnen.

Über Berlin hinaus bekannt wurde Geigerzähler vor zehn Jahren mit seinem Album „Berlinska Droha“ (Berliner Ecke). Während dort Berliner Punk auf sorbischen Folk trifft, kann man in dem neuesten Album die Entwicklung eines Berliner Künstlers vom Krachpunk zum gesellschaftskritischen Chansonnier verfolgen.

Das Album: „Der Zeitstahl ist gebrochen“. Paul Geigerzaehler, zu bestellen über:

http://geigerzaehler.blogsport.de

Konzert: 21. 12., 19 Uhr in der Linienstraße 206