Osman Engin
Die Coronachroniken
: Die Corona-Schulden

Foto: privat

Osman Engin

ist Satiriker in Bremen. Zu hören gibt es seine Kolumnen unter https://wortart.lnk.to/Osman_Coro-na. Sein Longseller ist der Krimi „Tote essen keinen Döner“ (dtv).

Der Abdullah-Ibrahim kommt mir gerade entgegen. Wir Türken begrüßen unsere Freunde mit ausgestreckten Armen und lautem „Oooh“.

Die Anzahl der O versinnbildlichen die Enge des Verhältnisses zueinander.

Mein „OOOOOOOH“ habe ich selbstverständlich mit großen Buchstaben ausgerufen.

Die O-Experten unter euch werden die Bedeutung von sieben großen O richtig einzuschätzen wissen.

Abdullah-Ibrahim bleibt aber sehr distanziert und murmelt leise, „Oooh“, also nur drei O, zwei davon sogar klein! Da schießt mir durch den Kopf, dass ich Abdullah-Ibrahim vor einigen Wochen 200 Euro geliehen habe. Anscheinend vermutet er, dass ich mein Geld sofort zurück haben will, deswegen seine kurz angebundene Begrüßung mit nur drei O. Zwei davon klein.

Das Missverständnis tut mir weh, ich hätte meinen Freund nicht so erniedrigen sollen. Denn schließlich weiß ich auch, wenn ich an Cemals Gemüseladen vorbeigehe und er mich mit lautem, unüberhörbarem „Ooooh, Merhaba, guten Abend“ begrüßt, dass dieser Ausbeuter mich nur auffordern will, die 20 Euro, die ich ihm schulde, sofort zurückzuzahlen.

Ich muss etwas tun, damit Abdullah-Ibrahim mir wieder verzeiht!

„Weißt du was, Abdullah-Ibrahim, ich habe allen meinen Freunden die Hälfte der Schulden, die sie bei mir haben, erlassen!“

Abdullah-Ibrahim will antworten, aber die Worte bleiben ihm im Halse stecken.

„Natürlich ist dieser Erlass von Freund zu Freund verschieden. Dir habe ich selbstverständlich alles erlassen“, versuche ich meinen Fehler wieder gut zu machen.

Abdullah-Ibrahim starrt mich entgeistert an und bekommt kein Wort über die Lippen. Unverschämterweise habe ich ihn mit anderen Bekannten auf eine Stufe gestellt.

„Abdullah-Ibrahim, ich war gerade bei der Bank und hab 500 Euro abgeholt. Diese 500 Euro will ich dir schenken.“

Abdullah-Ibrahim schnappt sich das Geld, dreht sich um und greift blitzartig in die Seitentasche. Ich weiß, dass mein letztes Stündlein geschlagen hat.

Außer sich vor Wut, wird er mich – den Hund, der ihn auf offener Straße so schwer beleidigt hat – mit dem Revolver niederstrecken.

Aber er holt statt der Pistole lediglich Stift und Papier und fängt an zu schreiben. Ich bin ihm also nicht einmal eine Kugel wert. Danach hält er mir das Geschriebene unter die Nase:

„Osman, entschuldige bitte, dass ich ohne Mundschutz mit dir weder sprechen noch dich umarmen darf. So brutal sind die neuen Coronazeiten nun mal. Ich danke Dir für den Erlass der Schulden und für die 500 Euro. Es gibt doch noch wahre Freunde in dieser verlogenen, virusverseuchten Welt!“