JENNI ZYLKA über PEST & CHOLERA: Die Köter kläffen, der Nöck, er schweigt
Könnte der Nöck nicht für Ruhe sorgen? Aber nein, er steht nur da, wie aus Stein
Im Treptower Park in Berlin, nicht weit entfernt vom sowjetischen Ehrendenkmal, liegt eine kleine Hundekackwiese an einem See. Am Ufer des Sees stehen Trauerweiden, die ihre Äste brav bis zur Wasseroberfläche recken, so wie in der Anfangsszene von „The Getaway“ mit Steve McQueen und Ali MacGraw, in der ein Bankräuber nach Jahren endlich aus dem Knast kommt und seine Freiheit mit einem Tarzansprung über die Baumäste ins Wasser feiert. Im Treptower Park springen höchstens jugendliche Bankräuber in spe, denn manchmal hocken einsame HundebesitzerInnen auf der Hundekackwiese zwischen den Häufchen, meist aber Mütter mit aufrührerischen Söhnen, die dann eben vor Elan brüllend die Trauerweidenäste nutzen und die friedliche Seeruhe zerschneiden. Jedes Mal, wenn einE neueR HundebesitzerIn samt Köter vorbeischlendert, gibt es einen Riesenaufruhr, in allen Tonlagen wird gebellt, gesabbert und an sich herumgeschnüffelt, die Herrchen und Frauchen krakeelen dazwischen „Seuche, lass das!“ – „Bootsmann, hierher!“ – „General, fass!“, was mich umso mehr wundert, weil ich immer dachte, Hunde könnten nur zwei Silben verstehen und von denen ohnehin nur die Vokale, sodass es egal ist, ob man sein Viech nun Bootsmann oder Oma nennt bzw. General oder Ekel, die dritte Silbe sei gleichsam vergebene Liebesmüh.
Aber was red ich. Ich gehe ja nicht wegen der Hunde auf die kleine, arg gelblich-vertrocknete Wiese. Sondern wegen des Nöcks. Im flachen Wasser des Sees, zwei Meter vom Ufer entfernt, wurde nämlich eine Skulptur vergessen: Auf einem rundlichen Felsen schläft nackt eine steinerne Dame. Sie wacht nicht auf, obwohl sich gerade ein Nöck über sie beugt. Der Nöck hat ein Nessie-Gesicht, er fletscht die großen Zähne (wofür braucht er die? Er wirkt wie ein Planktonfresser), und wenn man am Ufer vorbei an den großen Kaninchen- (oder Ratten?-)Löchern geht, sieht man, dass der Nöck in einen Fischschwanz endet, walnavigationsflossengroß, den er mit auf den Stein gehievt hat und der sich jetzt etwas unmotiviert um die Frauenfüße ringelt.
Meiner Ansicht nach sieht der Nöck nicht gefährlich aus, trotz des vorfreudigen Grinsens. Soll die junge Dame ruhig weiterschlafen. Was will er ihr schon tun mit seiner unpraktischen Schwanzflosse, sie müde flippern? Vielleicht möchte er sie auch mit nach unten nehmen, in sein Reich mit den Seepferdchen, die Kutschen ziehen, und Kugelfischen als Lampen. Aber wenn die Dame sich nur mal eine Sekunde wach umguckt, müsste ihr sofort auffallen, wie flach das Wasser um ihren Felsen ist, ein Nöck könnte nicht mal eine Studentenbutze darin bauen.
Außerdem ist der Nöck nicht wirklich an ihr interessiert. August Kopisch nämlich, der alles über seltene Wesen weiß, (er hat auch schon die Kölner Heinzelmännchengeschichte erzählt) erklärte in seinem Gedicht „Der Nöck“ irgendwann zwischen 1814 und 1853 bereits, was den Nöck umtreibt: Musik. Dass die Trauerweiden am kleinen Hundekackwiesensee ihre Äste so tief ins Wasser stecken, das liegt an des Nöcken Harfenschall („Es tönt des Nöcken Harfenschall / da steht der wilde Wasserfall / …/ die Bäume neigen / sich tief und schweigen“). Und der tief in seine Musik versunkene Nöck lässt sich ausschließlich von den frechen Knaben irritieren, die sich eine Strophe später über ihn lustig machen („Du kannst ja doch nicht selig sein / Wie kann dein Singen taugen?“).
Freche Knaben gibt es an meinem See genug. Sie lassen sich schreiend an den Trauerweideästen ins Wasser fallen, werfen ihren Kötern leere Bierbüchsen zum Apportieren hin und freuen sich über jeden neuen, der sich einen Platz zum Koten sucht.
Wenn ich der Nöck wäre, ich würde ein Machtwort sprechen. Ich würde die junge Dame in Ruhe lassen und lieber dafür sorgen, dass die schlecht erzogenen Rabauken meine Macht zu spüren bekommen. „Es spielt der Nöck und singt mit Macht / von Meer und Erd und Himmelspracht. Mit Singen kann er lachen / und selig weinen machen.“ Vielleicht kann er ja auch ein bisschen für Ruhe sorgen.
Fotohinweis: JENNI ZYLKA PEST & CHOLERA Fragen zum Nöck? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN
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