Infotainment war gestern

SCHLAGLOCH VON GEORG SEESSLEN Unsere Demokratie braucht Wahllokale, die ihrem Namen gerecht werden

■ lebt in Kaufbeuren. Er studierte Malerei, Kunstgeschichte und Semiologie in München, war Dozent an diversen Hochschulen und arbeitet heute als freier Autor für unterschiedliche Zeitungen. Zudem hat er rund 20 Filmbücher geschrieben.

Seit wir ein Fünf-Parteien-System haben, ist in Deutschland zumindest ein Interesse an taktischen Aspekten bei Wahlen gestiegen: Wer kann mit wem und wenn ja warum nicht? Seien wir ehrlich: Hätten wir vor ein paar Jahren ahnen können, dass sich hierzulande noch einmal so etwas Interessantes wie eine „Ypsilanti-Falle“ auftun könnte?

Weil aber die Politiker diese neue Aufgeregtheit in der deutschen Politik damit beantworten, dass sie absolut nichts mehr Relevantes von sich geben, ist die reale wie die innere Beteiligung der Bevölkerung an der Wahlveranstaltung immer noch beklagenswert niedrig. Dagegen muss etwas getan werden, und die Antwort ist: Democratainment.Und dazu meine bescheidenen Vorschläge:

1. Was wir in den letzten Wochen erlebt haben, das ist, dass unsere Politiker immer noch ihre mehr oder weniger journalistischen Gegenüber im Fernsehen intellektuell und moralisch überfordern. Selbst Profis des Politainments wie Angela Merkel reagieren noch erstaunt auf die Blödheit und Unterwürfigkeit. Daher

2. Nicht nur Arbeit, Herr Westerwelle, die schon gar nicht, sondern die Wahl muss sich wieder lohnen. Da wir ja keine Wahlpflicht mehr einführen können, das passt einfach nicht, müssen wir umgekehrt Anreize schaffen. Ich schlage also vor, die Teilnahme an einer Wahl pro Wähler mit einer Prämie von 100 Euro zu belohnen. Was Banken und Automobilindustrie ihr wert sind, das müsste doch der kapitalistischen Demokratie die Selbsterhaltung wert sein!

3. Der Mensch unserer Zeit muss die Einsamkeit in der Wahlkabine besonders drückend empfinden. Um also mit den Worten des großen Harald Juhnke zu sprechen: Da muss Musike rinn! Mein Vorschlag: musikgestütztes Wählen. Auf das Wählen kann sich der Wähler schon durch die Wahl seines Musikprogramms in der Kabine vorbereiten: a) Hansi Hinterseers volkstümliches Hit House, b) Classic Light (Die schönsten Militärmärsche) und c) Kuschelrock, unplugged. So fühlt sich der Wähler wohl und will seine Kabine gar nicht mehr verlassen. Deshalb

4. Das Wahllokal muss endlich seinem Namen gerecht werden. Für Speis und Trank muss gesorgt werden: Kaffee und Kuchen, wahlweise Freibier und Schnittchen (für die Kinder des Wahlvolks gibt es eine Hüpfburg, und der Magier Waldi macht ganz lustige Luftballonskulpturen). Natürlich muss die Regel gelten: erst wählen, dann saufen. Ebendies bringt uns auf den nächsten Vorschlag:

5. Der bunte Wahl-Shuttle-Zug fährt durch die Stadt und holt die Wähler und Wählerinnen ab und bringt sie sicher wieder nach Hause. Für Stimmung unterwegs sorgen Willy & Die Wahlmänner mit Schunkelmusik nach Ihrer Wahl. Der bunte Wahl-Shuttle-Zug fährt die ganze Nacht durch, denn es gibt ja auch

6. Die Wahlparty! Wahrscheinlich ist es Ihnen schon aufgefallen: Kaum ist die Wahl zu Ende, da schalten sie im Fernsehen zu den sogenannten Wahlparties um. Bislang waren die immer nur für die Mitglieder einer Partei. Haben sie gewonnen, dann haben sie auf ihrer Wahlpartei getanzt und geklatscht und gejohlt; haben sie verloren, dann lagen sie sich weinend in den Armen, was emotional auch sehr schön ist. Beim Umschneiden des Fernsehens auf die Wahlpartys ist das Wahlvolk immer sehr neidisch geworden. Daher meine Forderung: Wahlpartys für alle! Sobald das Wahllokal vorn geschlossen hat, geht hinten die Wahlparty los.

7. Wie aber kann man die attraktiv gestalten? Auch da heißt es vom Fernsehen lernen. Jedes Wahllokal bekommt einen Überraschungsgast. Der bedankt sich dann recht recht herzlich für die wahnsinnige Mühe, die sich die Wähler gemacht haben, und sagt, dass wir immer noch alle zusammengehören und eine Demokratie haben in unserem schönen Land. Auf der regionalen Ebene ist da an Apfelmostköniginnen zu denken, das Faschingsprinzenpaar von 1999 oder den Meister im Traktor-Pulling. In größeren Städten schicken die Agenturen Prominenz: Horst Schlämmer repariert Wahlkabinen und Alfred Biolek kocht mit Livio-Öl. Natürlich reicht das noch nicht für eine gelungene Wahlparty. Daher

8. Das Wahl-Bingo. Jeder Wähler gibt nicht nur seine Stimmen ab, sondern darf anschließend auch auf den Wahlausgang in seinem Stimmbezirk und, wenn er in die Endrunde kommt, in ganz Deutschland wetten. Damit vermeiden wir die Stärkung extremistischer Parteien rechts und links, denn wer ist schon so blöd, seine Stimme einer Partei zu geben, die nachher nicht gewinnt? Großzügig könnte man nach der Einführung des Wahl-Bingo auch auf die Fünfprozentklausel verzichten. Unser Slogan: Mehr Democratainment wagen! Zwanglos wird dazwischen auch ein Politquiz abgehalten, der dem Verfassungsauftrag der politischen Bildung genügt: Wie heißt die arme, aber sexy Hauptstadt Deutschlands? Was macht der junge Mann mit den geölten Haaren und dem teuren Anzug und mit den vielen Namen im Hauptberuf? Darf man Asylbewerberheime gleich anzünden oder muss man vorher fragen?

9. Mit alledem wird man vielleicht immer noch keine Wahlbeteiligung von hundert Prozent erreichen, was eigentlich nicht weiter schlimm ist, weil wir ja eine Freiheit haben in der Demokratie. Dennoch schlage ich vor, die antidemokratischen Elemente, die sich von unseren großzügigen Angeboten nicht überzeugen lassen, einmal etwas genauer in ihrem privaten Lebensfeld und beim E-mail-Verkehr zu überwachen. Da wir nämlich eine wehrhafte Demokratie sind, dürfen wir antidemokratische Haltungen keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen. Nachforschungen auch beim Arbeitgeber und bei den Nachbarn sollten kein Tabu sein. Auch das perfekteste Democratainment kann auf einen Schäuble nicht verzichten!

Der Wahlkampf zeigt: Noch immer überfordern unsere Politiker ihre journalistischen Gegenüber im Fernsehen

10. Die Realisierung meiner bescheidenen Vorschläge übernimmt gern meine Firma Democratainment GmbH & Co KG. Ausführungen ohne Lizenzrechtsvereinbarungen werden mit Abmahnungen und zivilrechtlichen Konsequenzen geahndet. Der Rechtsweg ist beim Democratainment von vornherein total ausgeschlossen.

Und jetzt können Sie wählen gehen.

GEORG SEESSLEN