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Liebling der Massen Uli HannemannZahn-Buddhismus: Alles kann, nichts muss

Ich sitze im Wartezimmer meines Zahnarztes, als es an der Praxistür klingelt und eine Chinesin hereinkommt, kaum anderthalb Meter groß und ungefähr in meinem Alter. Am Empfangstresen fragt sie die Arzthelferin, ob sie wohl ihren Zahn wiederhaben könne. Den habe sie vorhin vergessen.

Hier im Wedding kommen manchmal auch Notfälle herein, die sich an Hunden oder Kronkorken die Zähne ausgebissen haben; die Helferin wirkt daher kaum erstaunt. Da müsse sie mal schauen, einen Moment, den habe man sicher weggeschmissen, aber eventuell ließe sich da trotzdem noch was machen, „nehmen Sie bitte so lange Platz“.

Die Patientin setzt sich, und ich frage sie neugierig, wozu sie den Zahn brauche. Es ist ein sonniger und nicht zu kalter Novembertag, einer dieser wenigen, ganz speziellen Tage, da alle Leute irgendwie netter und aufmerksamer wirken; das liegt in der Luft und pflanzt sich fort, eine alle Bedenken brutal niederwalzende Lawine der Achtsamkeit.

Entsprechend freundlich reagiert sie auf mein Interesse. Natürlich hätte sie genauso gut denken können: geht den doch nichts an, das kapiert der eh nicht, und dann diffamiert er am Stammtisch exotistisch unsere Sitten. Ich könnte ihr das kaum verübeln, in der Beziehung hat sie bestimmt schon negative Erfahrungen gesammelt. Doch sie verhilft mir gern zur Erleuchtung. Mit vor der Brust zusammengelegten Händen und leichter Verbeugung mimt sie einen religiösen Akt und erklärt, ihre Mutter habe das schon so gemacht und sie selbst – an dieser Stelle bin ich mir nicht sicher, denn ihr Deutsch ist nur etwa hundertmal besser als mein Chinesisch – gebe wiederum ihre Zähne an ihre Tochter weiter.

Ich sage, ich hoffte, dass der Zahn noch da sei. Das ist zwar leider keine echte Empathie; über die verfüge ich nicht. Ich kann mich schwer in andere Menschen einfühlen, und es ist mir in Wahrheit scheißegal, ob sie hier ihren Zahn wiederkriegt oder nicht. Aber ich habe mir im Laufe der Zeit antrainiert, roboterhaft eine Art Mitgefühl zu faken – ich behaupte ja, das machen viele so. Durch lebenslange Beobachtung meiner Mitmenschen habe ich ein ganz gutes Gespür dafür erworben, wann so eine pseudozugewandte Floskel passen könnte. Und im Gegensatz zu früher, als ich stets nur lachen konnte, wo andere weinten, möchte ich heute, dass sich die Leute mit mir wohlfühlen und ich auf diesem Wege vielleicht auch ein bisschen.

Wenn sich nun der Zahn nicht finden lässt? „Ach, das wäre auch nicht schlimm“, sagt die Frau fröhlich. Sie habe ja noch genug andere Zähne. Das finde ich schon sehr flexibel. Alles kann, nichts muss. Super. Andere Religionen als dieser Zahnfeekult oder Zahn-Buddhismus hätten wahrscheinlich wieder auf die altbekannt verbissene Tour reagiert: „Nein, es muss unbedingt dieser Zahn sein, Auge um Auge, Zahn um Zahn – brüll, zeter – stirb, ungläubiger Hund, du hast meinen heiligen Zahn gestohlen und besudelt, nun ist mein Glaube entehrt, der große Löwenzahn zürnt und meine Sippe ist bis ins tausendste Glied verflucht“, und hätte – zündel, mordbrenn, knister, hack – die Zahnarztpraxis mit Feuer und Schwert dem Erdboden gleichgemacht. Denn das scheint mir neben dem immanenten Frauenhass und den nekrophilen Schwurbelmärchen ein Hauptproblem der großen Glaubensrichtungen zu sein: der notorisch unentspannte Umgang mit unerwarteten Störungen der eigenen Religionsausübung.

Hier aber sorgt das gute Karma für den gerechten Lohn, denn der Zahn ist tatsächlich noch da.

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