Osman Engin
Die Coronachroniken
: Die Corona-Entführung

Foto: privat

Osman Engin

ist Satiriker in Bremen. Zu hören gibt es seine Kolumnen unter https://wortart.lnk.to/Osman_Coro-na. Sein Longseller ist der Krimi „Tote essen keinen Döner“ (dtv).

Wir werden entführt! Meine Frau Eminanim und ich werden in einem Transit entführt! Wir wissen beim besten Willen nicht, wer uns entführt und weshalb wir entführt werden – aber wir werden entführt. Ohne Zweifel!

Entführt zu werden, ist an sich kein Zuckerschlecken. Mit seiner Ehefrau zusammen entführt zu werden, ist die Hölle!

„Eminanim, jammere mir doch nicht die Ohren voll! Mir haben sie schließlich auch die Augen verbunden. Ich kann genauso wenig sehen wie du! Woher soll ich denn wissen, wo wir hinfahren oder was sie mit uns vorhaben? Ich bin doch kein Hellseher“, sage ich zu meiner Frau, um sie zu beruhigen – erreiche damit aber das Gegenteil.

Sie schimpft seit einer halben Stunde ununterbrochen, seitdem die zwei Männer uns plötzlich die Augen verbunden und in diesen Transit hineingezerrt haben.

„Osman, wegen deines Geldes kann es ja nicht sein. Du bist arm wie eine Kirchenmaus“, schimpft sie.

„Eminanim, wegen dir kann es auch nicht sein. Du bist alt wie die Kirche“, kontere ich genauso gehässig.

In Extremsituationen neigen die Menschen nun mal zu Übertreibungen. Obwohl, wenn ich es mir überlege, beide Argumente haben nichts Übertriebenes und entsprechen völlig der Wahrheit.

„Osman, warum werden wir denn entführt, verdammt? Und das in Zeiten von Corona!“

Das entspricht auch wieder völlig der Wahrheit. In diesen verrückten Zeiten von Corona, wo selbst die Familienmitglieder höllische Angst davor haben, sich näher zu kommen, werden wir brutal entführt!

Als der Wagen mit quietschenden Reifen sehr schnell in eine Kurve biegt, schleudern wir hinten im Laderaum wie zwei Säcke Kartoffeln hin und her.

„Osman, du bist ja so tapfer und mutig! Hör nur zu, wie mir vor lauter Angst die Zähne klappern“, wimmert Eminanim.

Blöde Männerrolle! Ich darf nicht mal zeigen, dass ich Angst habe. Dabei habe ich meine dritten Zähne längst in die Manteltasche gesteckt. Aber selbst dort klappern sie!

Plötzlich hält der Transit an.

„So, wir sind da“, ruft der Fahrer und macht die Tür auf.

Danach werden wir wie zwei Sträflinge in eine Wohnung geführt und man öffnet uns endlich die Augen.

„Da wären wir nun, meine Herrschaften“, ruft unser Entführer.

So brutal sieht er nicht mal aus. Weder er noch sein Komplize. Die beiden sehen eher wie meine lieben Kumpels Nedim und Hasan aus.

„Mein Gott, das sind ja Nedim und Hasan! Warum habt ihr uns denn entführt, ihr Idioten?!“, kreischt Eminanim entsetzt.

„Weil wir euch lieben“, lächelt Nedim und seine Frau Hümeyranim fügt hinzu, während sie den Tisch deckt: „Weil ihr Angsthasen euch wegen Corona seit einem Jahr weigert, uns zu besuchen.“