Erst jagst du die Welle, dann jagt sie dich

Pure kinetische Energie: In Stacy Peraltas Dokumentarfilm „Riding Giants“ ist Surfen Extremsportart und Gegenentwurf zum American Way of Life

VON DIETMAR KAMMERER

Möglicherweise ist das Ganze ja so etwas wie ein von langer Hand vorbereiteter, mit Raffinesse und Konsequenz durchgeführter Anti-Traumatisierungs-Masterplan, der direkt auf die Überschreibung unseres Bildgedächtnisses zielt. Vielleicht ist es auch bloß Zufall. Jedenfalls kommen knapp ein halbes Jahr nach der verheerenden Flutkatastrophe in Südostasien in kurzem Abstand gleich zwei Filme in die Kinos, in denen uns gigantische Zwanzig-Meter-Wellen nicht als apokalyptische, alles Leben vernichtende Bedrohung entgegengeschleudert werden, sondern als Versprechen, als der ultimative Kick. Sollte der Pazifik über eine eigene PR-Agentur verfügen, sie hätte ihre Arbeit nicht besser erledigen können.

Vor vier Wochen bereits ist Dana Browns Surf-Dokumentation „Step into Liquid“ angelaufen, nun lässt Stacy Peralta in „Riding Giants“ die Boards ins Wasser. Gleiches Anliegen, andere Ausrichtung. In Browns Version ist Surfen so etwas wie ein globales Medium der Verständigung, ein Lebensgefühl, an dem jeder an jedem Ort teilnehmen kann, eine völkerverbindende Angelegenheit, die keinen ausschließt. Stacy Peralta dagegen ist, wie schon in seiner Skater-Hommage „Dogtown and Z-Boys“, ein versierter Erkunder der Gegenkultur. Für die Geschichte des Wellenreitens als Freizeitbeschäftigung der ganzen Familie – auch hier waren es, wie so oft, Bilder aus Hollywood, die den obskuren Lebensstil einer Hand voll Aussteiger zum massentauglichen Volksvergnügen pushten –, hat Peralta bloß ein müdes Achselzucken übrig.

Für seine Geschichte des Surfens von den polynesischen Ursprüngen bis zum gegenwärtigen Extremsport hat Peralta jede Menge historisches Super-8-Filmmaterial ausfindig gemacht. In akribischer Recherche entsteht so ein Bild davon, wie Surfen in den 1940er-Jahren ausgesehen hat: Der Krieg in Europa ist endlich vorbei, kaum ein Dutzend südkalifornischer Taugenichtse verbringt seine Tage auf Hawaii damit, am Strand abzuhängen, sich von selbst gefangenen Fischen zu ernähren und jede sonstige Minute auf Brettern übers Wasser zu gleiten. Oder, wahlweise, sich in Fässern die Stranddünen hinabzurollen. Überraschende Einsicht: Surfen war in seinen Anfängen weder Sport noch Freizeit, sondern gerade der Lebensentwurf einer Gegenkultur zum American Way of Life, lange bevor Beatniks oder Hippies auf den Plan traten. In den Big-Wave-Surfern von heute macht Peralta die Nachfolger dieser frühen Individualisten aus: die auserwählten wenigen, die sich von der Masse abheben, indem sie die Messlatte des Machbaren – im wörtlichen Sinne – immer höher setzen. Eigentlich ist „Wellenreiten“ sowieso die falsche Bezeichnung. Man reitet nicht auf einer Welle – man sieht zu, dass man so schnell wie möglich wieder von ihr runterkommt. Wie es einer der Interviewten im Film auf den Punkt bringt: Erst denkst du, du jagst die Welle, dann erkennst du, dass in Wirklichkeit du der Gejagte bist. Vor der Eleganz eines gelungenen Surfs liegen Schmerzen, Schweiß und Knochenarbeit. Und hunderte von Fehlschlägen. „Riesenwellen werden nicht in Metern gemessen. Sondern in Angsteinheiten.“

„Riding Giants“ eröffnet mit so einer Welle: formlos, gewaltig, pure kinetische Energie. Dazu schmettert ein Bach-Choral. Jede Menge Mythen, Ängste und Faszinationen drängen in diesem Bild aufeinander: Das Meer als Urquelle und Zerstörer allen Lebens, Furcht und Schrecken des Erhabenen. Das ist spektakulär, wäre aber kaum in voller Filmlänge durchzuhalten, genauso wenig wie eine ständige Heldenlegenden-Strickarbeit. Zum Glück hat Peralta seinen Film nicht nur aus Ehrfurcht, sondern – zum Beispiel in den liebevollen Animationen zur Frühgeschichte des Surfens – auch aus jeder Menge Humor gebastelt.

„Riding Giants“. Regie: Stacy Peralta. Dokumentarfilm, USA 2004, 101 Min.