kritisch gesehen: Abschied vom Sehnsuchtsort
Faszinierend! In der nahen Ferne glitzert der Containerterminal, links gleiten Frachter durch die Wesermündung, rechts die Trockendocks und Riesenschiffe werden mit Autos beladen. Mittendrin auf einer Insel: der Columbusbahnhof, 1962 eröffnet für den Umstieg der Auswanderer:innen, US-Truppen, Kreuzfahrer:innen und Transatlantik-Tourist:innen vom Zug aufs Schiff oder umgekehrt.
Die Uhr über der kühn gewundenen Freitreppe im denkmalschutzwürdig-schönen Ankunftsaal zeigt nicht fünf vor, sondern exakt 12 Uhr an. Denn die Entscheidung ist gefallen, der Terminal wird 2023 abgerissen, da er den Anforderungen der Kreuzfahrtbranche nicht mehr genügt. Bis dahin residiert Das Letzte Kleinod in dem architektonischen Kleinod, um drei Kehraus-Inszenierungen zu entwickeln. Und schon verschwindet der Gebäudekomplex nicht mehr in der Hafenillumination, sondern wird mit blauen, gelben, roten Lichtakzenten wie ein Star inszeniert.
„Passenger Processing“ ist das erste Stück betitelt. Mit O-Tönen von Zeitzeugen hat Regisseur/Autor Jens-Erwin Siemssen die Räume neu belebt, durch die der muffige Geruch langjährigen Leerstandes wabert. Elf Schauspieler:innen berichten vom Malochen, Saufen, Geldverdienen, von Abschiedstränen, Ankunftsräuschen, Hafenkonzerten, pompösen Bällen, dem nahegelegenen Straßenstrich und den Absturzkneipen.
Die Zuschauer:innen bummeln dabei durch den Arbeitertunnel in die 5.000 Quadratmeter große Wartehalle, dürfen Waschkauen durchschreiten und bestaunen, was die Theatermacher:innen so alles mit den Hinterlassenschaften des Abfertigungs-Business gebastelt haben: lustige Figurinen, Wandreliefs aus Rädern und Türgriffen, Kühlschranktürme und runde Bodenskulpturen – etwa aus Klobrillen, Seifenspendern und Spiegeln. Im Umkleideraum bezeichnet sich ein Proll-Darsteller im Pas de deux mit einem Spind als „Knecht“. Ein Festmacher tanzt im Flur mit einem Tau, die Gastronomiemanagerin mit Stühlen. Bei fast jedem Satz muss mit einem Fundstück hantiert werden.
Das wirkt mal realistisch, wenn die Kioskbesitzerin Andenken wie die Hein-Mück-Puppe und Deutschland-Wimpel präsentiert. Das ist kunstvoll, wenn der Florist mit Leuchtstoffröhren und Glühbirnen statt mit Blumen agiert. Meist aber wirkt es aufgesetzt. Auch gibt es nicht wie sonst einen roten Faden, der die nachgestellten Erzählungen zu einer Geschichte verdichtet.
Immens hingegen der Aufwand. Selten setzt das Kleinod-Theater so viele Profimim:innen, Statist:innen und Musiker:innen ein. Sie gestalten Erinnerungstheater zum Abschiednehmen für alle, die schon von Kindesbeinen an dort Schiffegucken waren, Partys feierten oder hinter den Panoramafenstern speisten. Für alle anderen eine der letzten Möglichkeiten, diesen Identifikations- und Sehnsuchtsort noch mal kennenzulernen. Jens Fischer
Passenger Processing: bis 14. November, Bremerhaven, Columbusbahnhof; Termine und Tickets: https://www.das-letzte-kleinod.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen