: Eine Filmreise in die Nachbarschaft
Mit „Corona – St. Pauli“ hat Rasmus Gerlach eine Langzeit-Dokumentation über die Pandemie auf dem Hamburger Kiez gemacht. Am Sonntag nun ist sie als 160 Minuten lange vorläufige Fassung zu sehen – vermutlich einmalig
Von Wilfried Hippen
Annette Pankow ist zur Mumie geworden. Ganz mit Klopapier umwickelt, läuft die Aktionskünstlerin durch Hamburg-St. Pauli und verteilt, eben, Klopapier. Rasmus Gerlach wiederum rühmt sich, dass sein Museum mit Jimi-Hendrix-Devotionalien als einziges in der Stadt noch geöffnet hat – weil es in einem Waschsalon residiert. Ja, im vergangenen Jahr gab es eine Zeit, in der die Menschen Klopapier hamsterten. Und die Museen sind noch gar nicht so lange wieder geöffnet. Und noch mal ja: Der plietsche Museumsgründer, Rasmus Gerlach, steckt auch hinter der Dokumentation „Corona – St. Pauli“. Darin zeigt er, wie die Menschen in seinem Stadtteil auf die Pandemie reagierten. Zusammen mit acht weiteren Kameramännern und -frauen war er von März 2020 bis Mai 2021 auf dem Kiez unterwegs, über 60 Stunden Filmmaterial sind dabei entstanden. Eine vorläufige, stolze 160 Minuten lange Schnittfassung zeigt er nun am Sonntag im Hamburger Metropolis Kino.
Der Filmemacher, der sich mit „Lampedusa auf St. Pauli“ oder „St. Paulis starke Frauen“ zum Chronisten des Stadtteils entwickelt hat, nennt die Corona-Doku eine „Filmreise in die Nachbarschaft“. Und tatsächlich gelingt es darin, das Lebensgefühl der St. Paulianer*innen im Ausnahmezustand einzufangen – wofür er und sein Team ständig auf den Straßen unterwegs gewesen sein müssen, um Menschen zu befragen: Sexarbeiterinnen und Straßenreiniger treten auf, eine Barfrau, Virologen des Bernhard-Nocht- oder auch „Tropeninstituts“, Tourist*innen, Polizisten*innen, Nonnen und Fans des FC. St. Pauli.
Vielen von ihnen stellt er eine erst mal seltsame Frage: „Wer ist stärker, Gott oder das Virus?“ Ein schlauer Regietrick, denn alle erstaunt die Frage – und sie sind gezwungen, spontan zu antworten. Aber hier wird auch eine zweite Ebene deutlich: Religion spielt eine erstaunlich große Rolle in dem Film, der ansonsten die alternative Gegenkultur und einen angeblich sündigen Stadtteil feiert. Bei einer Protestaktion gegen das Berufsverbot der Sexarbeiterinnen etwa wird nachts ein großes neon-beleuchtetes Kreuz in der Herbertstraße errichtet. Gerlach weist auch auf die Kirche und die Nonnen hin, die es auf der Reeperbahn gibt, und der Film endet mit dem „Amen“ im Bittgebet eines katholischen Pastors.
„Corona – St. Pauli“ ist nicht chronologisch, sondern assoziativ geschnitten, springt also von Szenen aus dem ersten harten Lockdown zu solchen aus den Anfangstagen der Pandemie oder zu den eher gelockerten Zuständen im Mai 2021. Das irritiert zuerst ein wenig, aber man gewöhnt sich schnell an diese thematische Montage, die auch einen eher spielerischen Umgang mit der Krise möglich macht. So zeigt Gerlach etwa immer wieder Möwen. Er spricht sie als seinen Freund an – „Möwe Pauli“, die erst abgemagert ist und ohne die Essensreste von den Menschen hungert, sich dann aber wieder „majestätisch in die Lüfte erhebt“. Gerlachs Kommentar ist distanziert ironisch, aber auch deutlich politisch, wenn er etwa eine Protestaktion von Klimaschützer*innen dokumentiert, die ihre Hände auf die Straße geklebt haben. Da die „Mainstreammedien“ nichts darüber berichtet hätten, müsse er halt diese Bilder zeigen. Er selbst landet dann am 1. Mai 2021 im Kessel der Polizei, von einer anderen Demo gibt es schön fotografierte Drohnenbilder von einem Wasserwerfereinsatz auf der Reeperbahn.
Gerlach war bei solchen politischen Aktionen auf dem Fahrrad mit der Digitalkamera in der Hand dabei und wurde dann auch mal von Polizist*innen verwarnt oder geschubst. Auch davon erzählt er und so bekommt sein Film einen sympathisch persönlichen Ton. Nebenbei wird er dabei auch zu einer Art Fremdenführer, der etwa darauf hinweist, in welchem Haus der von den Nazis verfolgte Swingboy Peter Petersen gewohnt hat. Dazu zeigt er dann einen kurzen Ausschnitt aus seiner eigenen Dokumentation zu dem Thema. Und für eine historische Fußnote über die Hamburger Choleraepidemie im Jahr 1886 zeigt er Bilder aus einem Film, den sein Dokumentarfilmer-Kollege Klaus Wildenhahn zu dem Thema gemacht hat.
Die offene Form ermöglicht es Gerlach, alles, was er für interessant hält, in seinen Film hineinzustopfen. Dass es im „Panoptikum“ neben einer Wachspuppe von Greta Thunberg auch eine von Donald Trump gibt, hat mit Corona wenig zu tun, aber durch solche Umwege bleiben die 160 Minuten kurzweilig. Auch räumlich macht Gerlach ein paar Ausflüge: Er verlässt kurz St. Pauli, um im Abaton-Kino, neben dem Uni-Campus, Werner Grassmann zu treffen. Und im Deutschen Schauspielhaus filmt er die Proben zur musikalischen David-Bowie-Hommage „Lazarus“. Ein paar Hamburger Heroes wie Peggy Parnass oder der Fotograf Günter Zint tauchen auf, aber meist sind es jene, die auf St. Pauli leben und arbeiten, auf die Gerlach neugierig ist.
„Corona – St. Pauli“ wurde ohne Fördersmittel produziert, dafür mit Kolleg*innen und Freund*innen, die in der Zeit auch „nichts zu tun hatten“. Ein Versuch, zumindest etwas Geld aufzutreiben, ist dann auch im Film gelandet: Gerlach will die Fotografie einer Beuys’schen Fettecke, ein Geschenk von Eva Beuys, an Hamburger Galeristen verkaufen, scheitert dabei aber so kläglich wie komisch anzusehen.
In dieser, zugegeben etwas langen, Version wird „Corona St. Paul“ wohl nur dieses eine Mal öffentlich gezeigt werden: Gerlach hofft auf Kritik und Anregungen vom Publikum und will dann wieder in den Schneideraum gehen, um eine kinogerechte, etwa 80 Minuten lange Fassung zu montieren. Aber es ist auch in einem anderen Sinn ein unfertiges „work in progress“: „Ich hoffe, dass es nun bald aus ist mit der Pandemie“, schreibt Gerlach in einer E-Mail. „Der Film wird sonst zu lang.“
„Corona – St. Pauli“. Regie: Rasmus Gerlach, Deutschland 2021, 160 Minuten.
Der Film wird am Sonntag, 17. 10., 17 Uhr, im Metropolis Kino gezeigt – als „Corona Double Feature“ mit „Ein Tropfen Wasser in der Wüste“ von Claus Deimel
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