Mission Gesundheit gelungen: Reform durch

URTEIL Obamas Reform ist grundsätzlich verfassungskonform. Millionen US-BürgerInnen bekommen jetzt eine Versicherung

■ Die Reform: Sie beinhaltet Regeln, die in den meisten Industriestaaten Standard sind. Darunter: ➤ Versicherungspflicht für (fast) alle ➤ Solidarprinzip (Versicherungsbeiträge nach Einkommen) ➤ Verpflichtung der Krankenkassen, alle KundInnen aufzunehmen und auch bestehende Gesundheitsprobleme mitzuversichern ➤ Möglichkeit, Kinder in der Ausbildung bis zum 26. Lebensjahr bei den Eltern mitzuversichern.

■ Die Bedeutung: Kernstück von Obamas Sozialpolitik. Nach jahrzehntelangem Streit über die lückenhafte, überteuerte und ineffiziente Gesundheitsversorgung in den USA unterschrieb er das Gesetz im März 2010.

■ Die Kritik: Rechte GegnerInnen bezeichnen das Gesetz als „Freiheitsberaubung“ und vergleichen den Präsidenten mit Hitler und Stalin.

AUS WASHINGTON DOROTHEA HAHN

Vorläufiges Ende einer Zitterpartie: Das Oberste Gericht in Washington hat am Donnerstag die Gesundheitsreform aufrechterhalten. Eine Mehrheit von fünf zu vier RichterInnen befand, dass der Kongress die US-BürgerInnen dazu verpflichten darf, entweder eine Krankenversicherung abzuschließen oder – alternativ – eine Strafe zu zahlen. Das Gericht vergleicht die Strafe mit einer „Steuer“. Rund 32 Millionen bislang unversicherte Menschen in den USA können damit hoffen, im Jahr 2014 eine Krankenversicherung zu bekommen.

Die Entscheidung vier Monate vor den Präsidentschaftswahlen ist eine gute Nachricht für Obama, der aus der Gesundheitsreform das Kernstück seiner Innenpolitik gemacht hat. Paradoxerweise ist sie zugleich ein Wahlkampfargument für seinen republikanischen Herausforderer Mitt Romney, der versprochen hat, „Obamacare“ im Falle seiner Wahl abzuschaffen. Ähnliches kündigte der republikanische Chef des Repräsentantenhauses, John Boehner, an.

Die Gesundheitsreform, die offiziell Kostengünstige Gesundheitsversorgung (Affordable Health Care – ACA) heißt, soll die eklatanten und seit Jahrzehnten bekannten Missstände im Gesundheitswesen der USA ausgleichen. In dem reichsten Land der Erde haben vor Inkrafttreten der zentralen Teile der Reform rund 50 Millionen Menschen überhaupt keine Krankenversicherung.

Rund 50 Millionen Menschen hatten bislang überhaupt keine Krankenversicherung

In den Krisenjahren seit 2008 ist die Zahl der Nichtversicherten und der Unterversicherten noch weiter gestiegen. Ein Grund dafür ist die hohe Arbeitslosigkeit: Wer in den USA seinen Job verliert, geht in der Regel auch seiner Krankenversicherung verlustig. Ein anderer Grund sind Lohnsenkungen: In zahlreichen Fällen haben Unternehmen die Krise genutzt, um die kompletten Kosten für die Krankenversicherung auf ihre Beschäftigten abzuwälzen. Angesichts niedriger Löhne und hoher Versicherungsbeiträge führt das vielfach dazu, dass die Beschäftigten die Versicherung kündigen.

Gleichzeitig ist die Kostenexplosion im US-Gesundheitswesen weiter fortgeschritten. Die Medizinkosten in den USA sind die teuersten der Welt. Sie liegen doppelt so hoch, wie in den meisten europäischen Ländern. Dafür sorgt einerseits, dass das Gesundheitssystem fast komplett privat aufgestellt und auf Profit ausgerichtet ist. Andererseits trägt die große Zahl von Nicht- und Unterversicherten zu der Kostenexplosion bei.

Rund 32 Millionen bislang Nichtversicherte sollen jetzt einen Zugang zur Versicherung bekommen. Barack Obama begründet das einerseits mit dem Recht auf medizinische Betreuung. Andererseits damit, dass dadurch die Kosten für die anderen Versicherten gesenkt werden könnten. Die Republikanische Partei – und allen voran ihr rechter Flügel, die „Tea Party“ – machte aus ihrer Opposition gegen das Gesetz eine Propagandaschlacht. Dabei schreckte sie nicht vor der Behauptung zurück, Präsident Obama wolle „Tötungskomitees“ einrichten, die über Leben und Tod von PatientInnen entscheiden sollten. Sie suggerierten, die Gesundheitsreform sei eine extreme Form von „Sozialismus“.

■ Das Oberste Gericht der USA hat seinen Sitz in Washington D.C. Es ist mit neun RichterInnen besetzt. Sie werden vom US-Präsidenten nominiert und bleiben – falls sie nicht aus eigenem Entschluss zurücktreten – lebenslänglich im Amt. Das soll ihnen politische Unabhängigkeit und Legitimität verschaffen. Doch in der Realität entscheiden die RichterInnen, die bei zahlreichen politischen und juristischen Fragen das letzte Wort haben, oft entlang politischer Lagergrenzen.

■ Gegenwärtig stehen die Mehrheitsverhältnisse im Obersten Gericht 5:4. Fünf Richter sind von Republikanern nominiert worden (zwei von Ronald Reagan, einer von George Bush, zwei von George W. Bush). Ein Richter und drei Richterinnen von Demokraten – darunter die beiden von Barack Obama eingesetzten Sonia Sotomayor und Elena Kagan.

Ganz nebenbei hat die Republikanische Partei in der Kampagne ihre eigene frühere Position um 180 Grad gedreht. In den 90er Jahren, als der demokratische Präsident Bill Clinton mit dem Versuch einer Gesundheitsreform scheiterte, schlug die Republikanische Partei noch eine Versicherungspflicht vor.

Heute nennt sie dergleichen einen unzulässigen Eingriff in das Privatleben und „Freiheitsberaubung“. Ihr Präsidentschaftskandidat Mitt Romney hat als Gouverneur von Massachusetts in den 80er Jahren eine Gesundheitsreform auf Bundesstaatsebene durchgeführt – inklusive Versicherungspflicht oder als Alternative eine Strafzahlung – die rückblickend wie ein Vorbild für Obamas Reform aussieht. Doch im gegenwärtigen Wahlkampf verspricht Romney jetzt, dass er Obamas Reform an seinem ersten Amtstag abschaffen werde.