Seid hungrig!

WAHL Warum wirkt die politische Klasse unseres Landes so moppelsatt? Die Ambitionen so erloschen? Nur wer Hunger hat, schafft es nach oben. Ein Plädoyer für die Gier

■ Im politischen Sinne ist der Zustand der Nahrungsgier weder links noch rechts deutbar: Hat eineR Hunger, ist dies ein existenzieller Zug – und unterscheidet sich vom Appetit. Hat man nur diesen, könnte man essen, muss es aber nicht. ■ Hunger war und ist allen Populisten eigen, sei es Stalin, seien es Hitler oder Goebbels. Alles Interesse an Macht ist nichts, ist sie innezuhaben einem doch einerlei. Die Nachkriegshungrigsten im demokratischen Gefüge: Willy Brandt, Helmut Kohl, Gerhard Schröder, Angela Merkel. Auf der Lauer: Guido Westerwelle, Bodo Ramelow, Klaus Wowereit. Top-Idol: Barack Obama. JAF

VON JAN FEDDERSEN

Keineswegs ist es zu ignorieren, dieses Programm, das die SPD sich verschrieb, um bei der Bundestagswahl sich neuerlich für eine Regierungsbeteiligung zu bewerben. Nein, an diesem Schriftgut kann es nicht liegen, dass in allen Umfragen diese Partei am übernächsten Sonntag ein Debakel erleben wird. Der Grund für das weitgehende Desinteresse des Publikums, das nicht zur Stammkundschaft zählt, an diesem Programm wie an seinen ProtagonistInnen ist ein anderer – und er erklärt sich, hat man einmal einen Auftritt Frank-Walter Steinmeiers gesehen, gehört oder gespürt. Und zwar nicht wahrgenommen über die Wörtlichkeit seiner Aussagen, sondern über sein Timbre. Steinmeier? Nein Danke!

Würd er doch bloß mal ernsthaft Machtversessenheit verströmen. Doch es ist ein Trauerspiel. Er wirkt einfach nicht gierig, er hat keinen echten Appetit auf noch Höheres, er spielt nur Kanzlerkandidat. Und er muss dies tun, denn die Sozialdemokratie hat niemanden, keine Frau und keinen Mann, der oder die es mit allen aufnehmen möchte. Jedenfalls keinen Acker.

Acker? Das ist der Name, den Steinmeiers Idol und Freund einst in Jugendtagen trug, Gerhard Schröder, der Ausputzer in der Fußballmannschaft seiner Jugend, der Mann, der immer den Eindruck machte, er verstünde sich auf Blutgrätschen, aber am Ende immer nur drohen musste – Acker war ein Wühler. Das Kind einer Putzfrau, Vater Kirmesarbeiter, Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg, Aufstieg ohne Hilfe von Partei und Gewerkschaften. Einer, der sich offen traute, seinen Willen nach Macht zu zeigen. Rüttelte am Zaun vom Kanzleramt, schwörend, da reinzuwollen. Er hatte den Hunger der psychischen Art, er wollte es denen da oben mal zeigen; Steinmeier hingegen verbreitet eine Atmosphäre, die eine Grundsättigung von ersten Säuglingstagen an beim Publikum zur Fantasie bringt. Steinmeier sagt in diesem Wahlkampf immer nur diesen einen Satz: „Darf ich vielleicht auch mal ins Kanzleramt?“

Nein, die Wählerschaft überzeugt er nicht; es will Robustheit auf dem Weg nach oben demonstriert haben. Einen Kandidaten, der Rivalen plattmacht, der sie kegelt und in den richtigen Sekunden des Lebens Rücksicht für eine strategische, jedenfalls nicht für eine moralische Kategorie hält. Hunger nach Anerkennung eint sie alle, die es nach oben schafften. Helmut Kohl natürlich auch, der sie alle, für das Publikum doch faszinierend, schaffte, all die Straußens, Späthchens und Biedenkopfleins. Ebenso Willy Brandt, der doch als von der Union diffamierter Remigrant es zeigen wollte, dass ein Kind einer Lübschen Arbeiterfrau es schaffen kann.

Frank Walter Steinmeier verbreitet eine Atmosphäre, die eine Grundsättigung von ersten Säuglingstagen an beim Publikum zur Fantasie bringt. Er sagt in diesem Wahlkampf immer nur diesen einen Satz: „Darf ich vielleicht auch mal ins Kanzleramt?“

Um Hunger zu tilgen, braucht es Glück – vor allem aber Kälte zur richtigen Zeit. Angela Merkel konnte Kanzlerkandidatin werden, weil da die kriminelle Spendenaffäre ihrer Partei sich mit dem winselnd-heuligen Trauergefühl um den Verlust der Macht mischte. Ein Text in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in dem sie dem politisch ja beinahtoten Kohl endgültig die Luft abschnürte – und die politische Kastration all der Merzens und anderer Oberschlaumeier war da nur noch Formsache. Denn in der CDU war sie die Hungrigste von allen. Koch, Oettinger, Rüttgers oder Wulff – sie waren entweder zu japsig-planlos oder bereits in feinen Ämtern versorgt. Merkel aber stach sie an Hunger, also Machtbewusstsein locker aus; dass am Abend der letzten Bundestagswahl ihr Schröder auch noch den Gefallen tat, sie abfällig mit Machoallüren zu behandeln, als sei sie Gedöns – das konnte ihr nur recht sein.

Dass auch Merkel nach vier Jahren im Job als „leitende Angestellte der Bundesrepublik“ (wie Helmut Schmidt den Kanzlerjob mal skizzierte) leichte Sättigungsgefühle zu zeigen scheint, ändert nichts daran, dass ihr der Arbeitsplatz ersichtlich gut gefällt. Wie gern wäre sie mit dem Hungrigsten der politischen Konkurrenz zusammen, mit Guido Westerwelle. Einige Jahre lange dachte man, der ewige Jungliberale mit dem Timbre eines überheizten Operettenbuffos spiele nur Machtinteresse. Aber in den vergangenen Monaten hat er sichtlich aggressiv auf die kleinen Fiesigkeiten der Christsozialen reagiert. Die stichelten gegen ihn, er sei empfindlich, könne Polemik nicht ertragen – durchaus das Ressentiment bewusst bedienend, dass schwulen Politikern eine gewisse Tritt- und Tretfähigkeit fehle.

Die wiederum ist den Grünen nicht mehr gegeben. Claudia Roth, Renate Künast, Jürgen Trittin und Cem Özdemir umgibt in toto eine gewisse Wohltemperiertheit, von der Herbert Wehner, der beste, weil hungrigste Sozialdemokrat der Nachkriegszeit, kominterngestählt, wie es sich für seinen Aufstieg als günstig erwies, gemeint hätte, die Damen und Herren badeten wohl gern lau. Bei Grünens denkt man immer, die haben doch schon alles, die Schäfchen im Trockenen und den Brunello zu passenden Gelegenheiten fein dekantiert. Nein, diese Grünen sagen Gorleben und Brokdorf und Ökologie, aber es hört sich, nun, leider wie ein altes Kampfvokabular auf Dauerschleife an. Mit einer Einschränkung im personellen Detail: Trittin hat immer noch dieses Air des Politikers mit limitierter Beißhemmung. Er greift an, er hat’s drauf, er langt zu, wenn der Gegner ihm zu blöd kommt. Natürlich haben sie alle Menschen auf ihrer Seite, niemand hasst sie mit Inbrunst, aber für das politische Geschäft des Machtinteresses ist das schlecht. Denn man denkt: Die haben alles, die brauchen meine Stimme nicht.

Angela Merkel konnte Kanzlerkandidatin werden, weil die Spendenaffäre ihrer Partei sich mit dem Trauergefühl um den Verlust der Macht mischte. Die politische Kastration all der Merzens war da nur noch Formsache.

Anders die Sozialdemokraten, die die SPD nicht wollte nach der Wende; jene, die in der PDS organisiert waren und nun in der Linkspartei sind. Die linksradikalen Freaks und Exrealsozialismuskader der alten Bundesrepublik seien nicht gemeint, aber die die Gysis, Lötzschs, Hölls, Lederers, Kippings und all die anderen aus der früheren DDR kommen auch deshalb so authentisch beim WählerInnenvolk an, weil sie eben noch nie ganz oben waren. Frechheit tarnt nichts als ihren Hunger nach Anerkennung und Teilhabe am demokratischen Gefüge – endlich als die besten Verfassungspatrioten, die das Land je hatte mitmachen lassen. Lafontaine bringt im Übrigen die mächtigste Kränkung mit, die seinen Hunger nach Vergeltung beflügelt: dass man auf ihn nicht hörte während der Krise Ende der Neunziger – und dass Acker Schröder ihn opferte. Der Saarländer nutzt mit der ihm eigenen Potenz aus, dass ein Ausputzer wie sein damaliger Rivale kein guter Techniker war: Im modernen Fußball ist ja die Qualität dieses Spielertyps nicht mehr im Lehrplan. Ihr Können ist so ungelenk, das sie einerseits einem Spiel aufhelfen, es andererseits auch zerstören.

Hübsch passt auch der Aufstieg Horst Seehofers in die Kategorie des unbezwingbaren Hungers. Von den Stoiberianern zermörsert, konnte er es all den Lackeln wie Beckstein und Huber zeigen, als diese nur die – längst moppelsatten – Diener und Zweitdiener eines Stoiber waren und dem Publikum als solche missfielen. Dauerlehrlinge quasi, die auf Chef nicht können, zu lange im Azubistatus gehalten, zu ängstlich für Höheres. Seehofers Demütigung war so krass, dass er nicht anders konnte, als sie selbst politisch auszulöschen. Merke: Wer im politischen Kampf Verletzte macht, muss sie entweder ganz beseitigen oder wenigstens ins eigene Tun integrieren – wie Angela Merkel dies meisterinnenhaft vermag.

Steinmeier jedenfalls ist ein ewiger Diener des höchsten politischen Beamtentums. Er kann nicht, weil er nicht will. Und will nicht, weil er nicht weiß, wieso er nicht kann. Die SPD hat sich elf Jahre an den Buffets der Macht gelabt. Sie ist so erschöpft nach all dem Regieren, dass sie nicht kann. Merkel möchte, hört man, gern mit ihnen weitermachen. Wer wollte es dieser Frau, die es den ihren aus dem Westen vormachte, wie man Macht erringt, verdenken?