Die Asche meines Vaters

SUCHE Während sein Vater noch lebte, wusste unser Autor wenig über dessen Vergangenheit im algerischen Unabhängigkeitskrieg. Dann begann eine Reise voller Überraschungen

■ 46, lebt als Deutsch-Kabyle in Berlin, wo er für die taz und das Deutschlandradio arbeitet. Er ist Vater von Zwillingen, die noch nie in Algerien waren Foto: taz

VON TARIK AHMIA

Zwei Tage vor seinem Tod gibt mein Vater Rezki uns seinen letzten Wunsch mit auf den Weg: „Wenn ich tot bin, möchte ich, dass ihr meine Asche in der Bucht von Algier verstreut.“ Er stirbt am 11. April 2003 mit 66 Jahren. Algier ist seine Geburtsstadt. Meine Mutter, meine Schwester und ich ahnen nicht, wie uns dieser schlichte Wunsch noch weit über seinen Tod hinaus fordern wird.

Jahre später führt mich sein letzter Wille auf eine Reise in eine Vergangenheit, über die er selbst stets geschwiegen hat. Die Vergangenheit eines der grausamsten Unabhängigkeitskriege der Kolonialgeschichte. Vor fünfzig Jahren, am 5. Juli 1962, endete der Algerienkrieg mit der Unabhängigkeit des nordafrikanischen Landes.

Bis zum Tod meines Vaters war der Befreiungskrieg gegen die Franzosen für mich nicht mehr als eine Episode aus dem Geschichtsbuch. Algerien kenne ich von Familienbesuchen. Die Menschen und ihre Mentalität sind mir vertraut, das Land und seine Geschichte sind mir jedoch fremd geblieben.

Ich wusste zwar, dass mein Vater als junger Mann gegen die Franzosen kämpfte, was er dabei erlebte, darüber sprachen wir aber nicht. Obwohl es ein offenes Familiengeheimnis war, dass er in französischer Gefangenschaft fast zu Tode gefoltert wurde.

Selbst meiner Mutter gegenüber macht er in mehr als vierzig Ehejahren nur Andeutungen: die Kiste, in die ihn die Folterer wochenlang zwangen, die Elektroschocks. Kam das Gespräch doch einmal auf die Zeit, machte er eine wegwischende Handbewegung und wechselte das Thema.

Für meinen Vater begann nach dem Algerienkrieg ein zweites Leben. Uns, seine deutsche Familie, wollte er vor den Schatten des ersten Lebens schützen. „Als ich deinen Vater kennenlernte, war er 26 Jahre alt“, sagte meine Mutter mir später: „Aber mental kam er mir viel, viel älter vor.“

Zwei Wochen nach der algerischen Unabhängigkeit am 5. Juli 1962 begegnen sich meine Eltern zum ersten Mal in Hamburg. Meine Mutter Renate, 23 Jahre alt, Tochter ostpreußischer Kriegsflüchtlinge, studiert dort an der Uni. In ihrer Freizeit kümmert sie sich um ausländische Studentinnen und Studenten.

Schon nach der ersten Begegnung ist ihr klar, dass sie den Mann ihres Lebens getroffen hat. Rezki arbeitet unter einem Decknamen als Stipendiat des Bundespresseamts bei der Deutschen Presse-Agentur. Den Aufenthalt hatte der SPD-Politiker Hans-Jürgen Wischnewski eingefädelt.

Eine Woche später beschließen sie, nach Algerien zu gehen. In einem Jahr schließt Renate ihr Studium ab, um in Algier meinen Vater zu heiraten. Zum Standesamt geht es mit dem Bus, danach fährt mein Vater wieder zur Arbeit. So fuhren sie ihr ganzes Leben – pflichtbewusst, bodenständig, bescheiden.

Der Algerienkrieg beschäftigt mich nach Rezkis Tod immer mehr. Wie stark hat er unser Leben geprägt? Aus Bibliotheken besorge ich Bücher, ich sehe den bedrückenden und preisgekrönten Kinofilm „Die Schlacht um Algier“ von 1966.

Algier, la Blanche: Rezkis Geburtsstadt liegt an einer sichelförmigen Bucht. In dieser Bucht hat Rezki in den 40er-Jahren seine Kindheit verbracht. Die Gebäude der Stadt strahlen schneeweiß. Die Jungen springen von den Hafenmolen ins türkise Wasser des Mittelmeers und werfen Nylonschnüre nach Fischen aus. Er liebte diesen Ort.

Rezki war ein Kind der Altstadt Kasbah. Geboren und aufgewachsen in den verwinkelten Gassen, die sich durch die Hügel von Algier ziehen. Es war die Zeit eines kolonialen Zweiklassensystems. Seitdem die Franzosen 1830 das Land und seine Bevölkerung unterworfen hatten, galten ihnen die Algerier als „Untertanen Frankreichs“.

Aus den Büchern erfahre ich, dass die Franzosen in einer mehr als tausend Jahre anhaltenden Phase der Fremdbesetzung die letzten Kolonialherren in Algerien waren. Schon im 7. Jahrhundert kämpfte die algerische Urbevölkerung, die Berber, gegen die Araber, um ihr Land, ihre Sprache und Kultur gegen die islamische Invasion zu verteidigen. Im 16. Jahrhundert machten die Türken Algerien zu einer Provinz des Osmanischen Reiches.

Manchmal erzählte mir mein Vater Episoden aus seiner Kindheit. Sein Vater starb, als er acht Monate alt war. Rezkis Mutter Fatma zog ihre Kinder alleine groß. Gegen alle Widerstände.

Im Herzen der Kasbah teilte sich die Familie mit vier Verwandten ein Zimmer. Den Lebensunterhalt für ihre Familie verdiente Fatma als Haushaltshilfe einer französischen Familie. Ihre Kinder sollten so viel Bildung bekommen, wie für Algerier unter den rassistischen Verhältnissen möglich. Tatsächlich schafften es die Brüder Rezki und Rabah aufs Gymnasium.

Er ist gerade 18, als die Algerische Befreiungsfront Front de Libération Nationale am 1. November 1954 ihren bewaffneten Kampf beginnt. Kurz vor dem Abitur taucht Rezki im Untergrund der FLN ab: Er wollte kein Untertan sein. Er wollte Frankreich bekämpfen, um sein Land zu befreien. Das alles erfahre ich erst Jahre nach seinem Tod – von seinen Weggefährten.

Als mir Rabah von der Folter erzählt, fühle ich mich meinem Vater ganz nah

„Seid ihr noch zu retten?!?“, brüllt Rezkis zwei Jahre älterer Bruder Rabah in den Hörer, als meine Mutter ihm vom letzten Wunsch meines Vaters erzählt. „Verbrennung?!? Das bedeutet Fegefeuer. Das ist unislamisch!“, sagt Rabah. Was sollten die Nachbarn in Algier von ihm denken? Dabei wurde er ebenso wenig religiös erzogen wie mein Vater.

Meine Mutter und ich fahren zum algerischen Konsulat in Berlin. Zwei Monate später klingelt mein Handy: „Hör zu, mein Sohn“, sagt der Botschafter. „Der Wunsch deines Vaters verstößt gegen die Kultur unseres islamischen Landes.“

Auf der Trauerfeier für Rezki erzählt sein Freund Karl, was er an ihm schätzte: „Wer mit ihm und seiner Familie aus der Olivenholzschüssel Couscous geteilt hat, wer ein Stück seiner köstlichen Lammkeulen gegessen hat, wer an der unendlichen Zahl mäandernder Gespräche teilgenommen hat, der hat eine Ahnung, was Rezki Gastfreundschaft bedeutete.“

Erst Wochen nach der Trauerfeier hat meine Mutter eine Idee, wie wir den Wunsch meines Vaters doch erfüllen können: Wir fahren mit der Urne nach Marseille, nehmen die Fähre nach Algier und streuen die Asche in die Bucht, bevor das Schiff anlegt.

Fast fünf Monate nach Rezkis Tod, am 27. August 2003, stehen wir im Morgenlicht an Deck der Fähre und durchkreuzen die Bucht von Algier. Wortlos versenken meine Mutter, meine Schwester und ich die Urne. Mehr als Trauer eint uns das Gefühl der Zufriedenheit, Wort gehalten zu haben. Auch Rezki hat immer alles daran gesetzt, seine Versprechen einzuhalten.

Gleichzeitig bin ich wütend: auf die heuchlerische Moral, die das Leben der Menschen noch über ihren Tod hinaus mit Unfreiheit straft. Auf ein Land, das meinem Vater, der für dieses Land gestorben wäre, den letzten Wunsch verweigert.

Wieder zurück in Deutschland will ich mehr über die Geschichte des Mannes erfahren, den ich als liebevollen Vater kannte, der aber sein Leben als Freiheitskämpfer verborgen hielt.

Fünf Jahre trage ich diese Gedanken mit mir herum. Im November 2008 fliege ich schließlich mit einem Freund nach Algier, um Rezkis Weggefährten zu sprechen. Sein Bruder Rabah ist unser Gastgeber. Die Wohnung liegt auf einer Anhöhe in einem vergleichsweise ruhigen Viertel von Algier. Vom Balkon unseres Zimmers schauen wir auf Rezkis Bucht. Tagelang diskutieren wir auf Rabahs Sofa über den Krieg und die schwierige Gegenwart Algeriens. Meine Tante Leila serviert eine Mahlzeit nach der anderen, als wolle sie durch Essen den monotonen Alltag mit Abwechslung füllen. „Von meinen Hoffnungen für Algerien ist nur Verzweiflung übrig geblieben“, sagt Rabah.

Algeriens Hauptstadt ist eine heruntergekommene Schönheit. Die Jugendstilarchitektur der Besatzer prägt das Stadtbild. Ohne die Palmen könnte man sich in Paris wähnen: breite Alleen, elegante Bauten. Nur haben viele Gebäude seit Jahrzehnten keinen neuen Anstrich bekommen. Das Weltkulturerbe Kasbah verfällt. Verkehr, Lärm und Gestank benebeln einen. Die Menschen haben sich den Verhältnissen ergeben – über allem liegt Gleichgültigkeit.

Mein Onkel stellt uns den Kontakt zu Rezkis besten Freunden her. Was ich von ihnen erfahre, verblüfft mich zutiefst.

Yussef Hadari war einer der engsten Vertrauten meines Vaters. Er wohnt mit seiner Familie nur ein Haus von Rabah entfernt. Seit der vierten Klasse gingen Yussef und Rezki gemeinsam zur Schule. Mit abgewetztem Jackett und professoralem Charme empfängt uns der kleine, grauhaarige Mann in seinem mit schweren Sesseln ausgestatteten Wohnzimmer. Er ist 75. Seine Augen sind durch die starke Brille wie durch zwei Lupen vergrößert. Unter dem Schnurrbart sehe ich, dass ihm zwei Schneidezähne des Unterkiefers fehlen.

Yussef redet nüchtern und ruhig: „Du konntest Rezki über Jahre kennen, es gab immer etwas, was du nicht über ihn wusstest.“

Im Jahr 1955 wird mein Vater Mitglied der algerischen Guerilla FLN. Die FLN arbeitet extrem konspirativ. „Es konnte dein Bruder sein und du wusstest nicht, dass er ein Mitglied war“, sagt Yussef. Militärisch ist die Organisation gegen die gewaltige französische Armee chancenlos. Im Oktober 1957 erleidet die FLN eine vernichtende Niederlage. In der „Schlacht von Algier“ gelingt es dem französischen Militär, die FLN-Chefs der Hauptstadtregion zu verhaften. Da gehört Rezki schon zum militanten Widerstand. Nach der Niederlage taucht er in Frankreich ab. Die FLN schickt ihn auf eine Mission. „Rezki sollte als Militärchef für die Hauptstadt den Widerstand neu aufbauen“, sagt Yussef.

Ich glaube, mich verhört zu haben. „Ja, Militärchef“, wiederholt Yussef. Langsam ahne ich, wie weit Rezkis erstes Leben von dem Leben entfernt war, in dem er mein Vater gewesen ist.

■ Die Kolonie: In der 130-jährigen Besatzungszeit hatte sich Frankreich Algerien mit seinen Bodenschätzen einverleibt, als wäre es ein Ausläufer Südfrankreichs. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten etwa eine Million Europäer in dem Land, umgeben von etwa neun Millionen maghrebinischen Bewohnern, die sie wie Untertanen behandelten.

■ Der Krieg: Seit 1954 hatte eine halbe Million französischer Soldaten den algerischen Widerstand bekämpft. Algerische Quellen sprechen von 1,5 Millionen Toten. Am 5. Juli 1962 endete einer der brutalsten Kolonialkriege mit der Unabhängigkeit Algeriens.

Ende 1958 taucht Rezki wieder in der Kasbah auf. Die Bevölkerung ist traumatisiert, die wenigsten haben noch den Mut, sich gegen die Franzosen aufzulehnen. Trotzdem beginnt Rezki, Mitstreiter zu rekrutieren.

Sechs Monate laufen die Planungen. Dann trägt ein Spitzel den Franzosen den Decknamen eines Mannes zu, den sie für den neuen Anführer der FLN in der Hauptstadt halten: „Le Flegme“ – etwa „Der Gelassene“.

Als Yussef den Namen ausspricht, muss ich schmunzeln. Das konnte nur mein Vater sein. Außerhalb der Familie kannte ich ihn als Pokerface. Je weniger ihn andere durchschauten, desto stärker war er. „Überlege dir sehr genau, wann du zuschlägst. Du hast immer nur eine Chance“, sagte er mir mehr als einmal.

Während der Bruder bangt, bringt Sartre die Rettung

Im Juni 1959 werden Rezki und etwa zwanzig Leute aus seinem nächsten Umfeld – darunter Rabah, Yussef, Freunde und Bekannte – mitten in der Nacht verhaftet. Französische Fallschirmjäger stülpen ihnen Säcke über die Köpfe und fahren sie im Lastwagen zu einer Foltervilla. Dort werden sie in winzige Zellen gesteckt, in die sie nur hineinkriechen können.

Die Folterpraktiken übertreffen alle Vorstellungen. Sie haben es vor allem auf Rezki abgesehen. Nachdem ihn die Soldaten wieder in die Zelle zurückbringen, ruft Rezki nach seinem Bruder: „Rabah, bist du da?“ Rabah antwortet: „Wie geht es dir?“ Rezki sagt nur: „Mach dir keine Sorgen. Halte durch!“

Als mir Rabah von dieser Szene erzählt, fühle ich mich meinem Vater ganz nahe. Er war stark, er brachte Opfer und lebte diese Prinzipien rücksichtslos gegen sich selbst. Wäre er später gestorben, wenn er nicht so oft über seine Kräfte gelebt hätte?

Ende Juli 1959 kommt Rabah frei. Er streift durch die Straßen Algiers, um das Haus wiederzufinden, in dem sein Bruder leidet. Rabah versucht sich an die Fahrt zu erinnern: Wann ist der Transporter abgebogen, wann bergauf, wann bergab gefahren?

Er gelangt zu einem zivilen Gebäude, von dem es heißt, die französische Armee würde es nutzen. Nach einer Weile öffnet sich die Eingangstür und Rezkis Wächter kommt heraus.

Rabah spricht ihn an: „Ich möchte nur wissen, wie es Rezki geht.“ Der Mann, selbst Algerier, erstarrt. Rabah verspricht ihm Zigaretten und Geld. Von nun an nimmt der Wächter Botschaften für Rezki mit, wenige Zeilen. Nach fast vier Monaten Folterhaft aber bleiben Rezkis Botschaften aus. Lebt er noch?

Während Rabah bangt, taucht in Frankreich ein Verbündeter auf: „Jean Paul Sartre und andere Intellektuelle riefen die französische Bevölkerung dazu auf, die Kriegsverbrechen der eigenen Armee in Algerien nicht länger hinzunehmen“, sagt Yussef. „Sartre forderte die Bürger auf, Komitees zu bilden und vor Ort den Folterhinweisen nachzugehen.“

Wortlos versenken wir die Urne in der Bucht von Algier. Wir sind traurig, aber zufrieden

Anfang November 1959 trifft ein Bürgerkomitee in Algier ein und geht den Hinweisen auf Rezki nach. Nach ein paar Tagen spüren sie ihn in der Foltervilla auf. „Er war mehr tot als lebendig“, sagt Rabah. Die FLN schleust ihn nach Marokko aus.

Der Aufruf Sartres rettet nicht nur meinem Vater das Leben – ohne ihn wären auch meine Schwester und ich nie geboren.

Fast zwei Wochen in Algier zehren an unseren Kräften. Die hektische Stadt macht unsere täglichen Fußmärsche zu Kraftproben. Bin ich wirklich Deutsch-Algerier? So vieles von diesem Land meines Vaters ist mir fremd.

Nach der Unabhängigkeit Algeriens leben meine Eltern ab 1963 im Land des Neubeginns. Rezki wird als Vertreter einer jungen Führungsgeneration zunächst Chefredakteur des algerischen Staatsrundfunks, zwei Jahre später leitet er die algerische Presseagentur. Bis Ende der 60er-Jahre leben sie in der Hauptstadt. In dieser Zeit werden meine Schwester und ich geboren. Mein Vater ist so selten zu Hause, dass ich ihn bisweilen mit „Monsieur Papa“ anspreche.

In der politischen Führung des Landes, die sich als Einheitspartei präsentiert, gären von Anfang an Konflikte. Der Streit zwischen linken und islamisch-konservativen Kräften gipfelt 1965 in einem Militärputsch. Die konservativen Kräfte haben nun das Sagen. Bürgerrechte werden zurückgedrängt, Korruption gedeiht im Staatsapparat. Oppositionelle werden ermordet.

Rezki ist frustriert und enttäuscht. Für dieses System hat er nicht gekämpft. Im Jahr 1968 legt er seinen Posten als Chefredakteur nieder. Ein Jahr später wandern wir nach Deutschland aus.

In der Bundesrepublik ist Rezki nicht mehr Führungskader, sondern nur noch ein Ausländer, der kein Deutsch spricht. Zunächst arbeitet er beim französischen Dienst der dpa. Nach dessen Schließung schlägt er sich mal als Vertreter, mal als Restaurantbetreiber für nordafrikanische Spezialitäten durch. Zuletzt arbeitet er in der Pressestelle der Hamburger Sozialbehörde.

Es ist nicht die Herkunft, es sind die Werte

Die deutsche Staatsangehörigkeit lehnt er auch nach mehr als 30 Jahren in Hamburg ab. Dabei liebt er diese andere Hafenstadt, die er so gut kennt, als wäre er dort geboren.

■ Die Identitäten: Die Unabhängigkeit brachte den meisten Algeriern 1962 kein besseres Leben. Militärs und Politiker rissen die Macht an sich. Algerien wurde zur sozialistischen Volksrepublik. Später folgte eine Arabisierung: Französisch war verboten. Seit 1992 kämpften Islamisten mit der Armee im Bürgerkrieg.

■ Das Leben: Berufstätige verdienen im Schnitt 150 Euro im Monat. 75 Prozent der Algerier sind jünger als dreißig, oft ohne Job. Der Arabische Frühling ging an Algerien vorbei. Viele dulden lieber einen kalkulierbaren Autokraten wie Präsident Abdelaziz Bouteflika, statt einen Umsturz zu wagen.

In Rezkis Nachlass finde ich einen Zettel aus dem Jahr 1973, auf dem er auf Französisch notierte: „Auch wenn mein Land nicht das stärkste, das mächtigste und das reichste ist, so möchte ich, dass es doch das gastfreundlichste, das großherzigste und das gerechteste sein soll, in einem Wort das menschlichste: So wird es zum schönsten aller Länder.“

Es ist weniger die geografische Herkunft eines Menschen als seine Werte, die seine Identität ausmachen. Das hat mir mein Vater vermittelt. „Unbedingte Solidarität mit denen, deren Leben durch Unterdrückung und Unrecht, Unfreiheit und Armut gekennzeichnet ist, war Rezki selbstverständlich“, sagt sein Freund Karl auf der Trauerfeier.

Deutschland ist zum Lebensmittelpunkt unserer Familie geworden, weil es diese Werte mehr respektiert als andere Länder. Meine sprachliche und biografische Heimat habe ich hier gefunden. Doch mehr als irgendeinem Land fühle ich mich den Werten verbunden, die auch meinem Vater wichtig waren.

Je länger wir in Algerien unterwegs sind, desto stärker festigt sich dieser Eindruck. Ein Cousin nimmt uns mit in die Kabylei. Die arme Bergregion befindet sich etwa drei Autostunden östlich von Algier. Dort liegen die Wurzeln von Rezkis Familie. Bis heute ist diese Gegend das politische und kulturelle Zentrum der stolzen algerischen Berber.

Während ihrer Besatzungszeit schlugen die Franzosen fast 170 Aufstände der Kabylen nieder. Heute bekennen sich noch etwa 30 Prozent der Algerier zu dieser kabylischen Kultur. Auch Rezki sprach Kabylisch.

In einem Dorf blicke ich über die karge Berglandschaft und atme tief durch. Der Druck und die Enge der Hauptstadt sind mit einem Mal weit weg. Die Menschen gehen entspannt ihren Geschäften nach. Die Frauen tragen die traditionellen knöchellangen Kleider mit ihren leuchtend orangen und roten Mustern. Ein paar Männer sitzen vor einem Café, plaudern und trinken Bier. Das wäre im frömmelnden Algier undenkbar.

In Algerien, einem Land, das ich im Identitätstrauma erlebe, wirken die Kabylen auf mich wie der gelassene Gegenpol.

In den Werten der Kabylen, die sich selbst als „Amazigh“, als „freier Mensch“ bezeichnen, erkenne ich meinen Vater wieder: Toleranz, Prinzipientreue, Konsequenz. Das gefällt mir. Dort oben in den Bergen wird es mir bewusst: Ich will ein Deutsch-Kabyle sein.