Wahlabfuck

Vier Monate haben wir mit dem taz Wahlcamp politischer Veränderung nachgespürt. Und jetzt das! Fünf Stimmungsbilder

Die Stimmung danach: Wie geht es jetzt weiter? Adrian Breitling, Jaromir Schmidt, Shoko Bethke, Ruth Fuentes und Aron Boks (v. li.) Foto: Julia Weinzierler

Geil! Party, Leute!

Oh yes, die Union hat abgelost. Lol, die SPD wurde ja tatsächlich gewählt. Oh, oh, oje die Grünen. Ähm ja, AfD. Immerhin ein bisschen weniger, aber damn it. Warum wählt man Lindner? Der ist nicht mal hot. OH FUCK! SHIT! 5 PROZENT??? Hilfe!

Wir, das taz Wahlcamp, sind dazu verdonnert worden, den Live-Ticker der taz-Wahlparty zu machen. Eine Nacht drüber geschlafen würde ich das so schreiben: Überraschenderweise überrascht mich wenig am Ausgang der Wahl. Meine Hoffnung, dass wir mit der neuen Regierung nun endlich die Probleme im Land und der Welt lösen, waren nie wirklich über das Level der Ignoranz gestiegen, mit dem Rezo, der alte Zerstörer, seit seinem ersten Video von der Union abgespeist wird. Hie und da mal ein bisschen soziale Gerechtigkeit oder die Bekämpfung der Klimakrise gefordert, aber der allgemeine Ton des Wahlkampfs war getreu dem Motto von Die Partei: „Inhalte überwinden“.

Wie soll man denn auch mit Inhalten punkten, wenn es keine gibt? Es gibt ja nicht mal eine einzige Partei, deren Vorschläge die Klimakrise zu bekämpfen ausreichen würde, um das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten. Es gibt ja nicht mal eine einzige Partei, die soziale Gerechtigkeit über den Mindestlohn hinausdenkt.

So ziehe ich meinen Schluss, dass Politik weiterhin aus der Opposition gemacht werden muss. Nicht aber aus der parlamentarischen Opposition heraus. Die hat schon lange nix mehr zu melden. Nein, es werden schweißtreibende Jahre für Klimagerechtigkeitsbewegung und Co.

Aufgeben? Keine Option! Jetzt wird erst recht angegriffen! Dafür ist der gesellschaftli… äh, Moment, oh, oh! Die Ber­li­ne­r:in­nen haben mit einem Volksentscheid dafür gestimmt, Deutsche Wohnen & Co zu enteignen. Jaaaaaaaaaa!!!! Scheiß drauf, was ich geschrieben habe! Geil! Party, Leute!

Jaromir Schmidt

Links ausrutschen

Am Wahlsonntag lallen wir uns zur Begrüßung den Satz entgegen: „Heute müssen wir die Veränderung sein.“ Es ist der Song eines durchzechten Abends, an dem wir beschlossen hatten, den Linksrutsch in Deutschland schon einmal vorzufeiern. Wir müssten ja nur noch wählen gehen.

Solche Gedanken haben es leichter an Rotweinabenden als an glasklaren Morgen, wenn dazu folgender Dialog meiner Nach­ba­r:in­nen durch meine dünnen Hauswände dringt:

„Hauptsache nicht die Scheißgrünen Marlis, ja?“

„Okay!“

Wir gehen schnell und schweigend in Richtung Wahllokal. Wir wissen ja, was wir wählen wollen – die Veränderung. Vor uns öffnet sich eine Tür, aus der ein Plakat der Partei Die Linke segelt. Ein Mann mit Werkzeugkoffer, Bierbauch und Arbeiterhose tritt drauf, schiebt es vor sich – noch ein Tritt.

Du bist zusammengezuckt, das habe ich genau gesehen. Wir sind lang nicht mehr vor die Tür gegangen, denke ich. Ich meine: So richtig nach draußen. Wir haben uns lang nicht mehr aus unserer Blase bewegt und stattdessen jede politische Entwicklung als große Metapher statt als Realität gesehen.

„Manche Menschen haben einfach keinen Bock auf links“, sage ich vermutlich deswegen und ergänze gestelzt: „Wir sind heute die Veränderung!“ Der Typ tritt noch mal auf das Plakat und dann noch mal, als läge vor ihm nicht der Spruch „Jetzt! Die Linke“, sondern ein langsam um sich greifendes Feuer.

„Vielleicht wähle ich doch lieber SPD. Vielleicht müssen wir strategisch wählen“, sagst du, kurz bevor uns der Wahlhelfer trennt.

Wie unsexy klingt das denn jetzt? „Strategisch wählen.“ Und überhaupt: Wer sagt so etwas kurz vor der Wahlkabine? Ich dachte, wir wollten gemeinsam die Welt retten. Ich dachte, wir sind die Veränderung.

Kann ich meine Wahl noch mal überprüfen?

„Nein. Sie können Ihren Stimmzettel jetzt nicht mehr zurückhaben!“, sagt ein Wahlhelfer zu mir. „Einmal eingeworfen ist eingeworfen. Haben Sie etwas Falsches gewählt?“


Ich weiß es nicht, das ist ja das Problem.

Ich hoffe, du hast es nicht getan.

Aron Boks

Kater nach dem Bullshit-Bingo

Hm, joa. Also eigentlich alles wie vorher. Dieselben Fragen nach der schicksten Farbkombination für den Herbst, die gleichen Null-Inhalt-Sätze von wegen Auftrag und Angebot und so. Selbst Laschets unterhaltsamer Unfug löst nicht mehr als ein Pfff aus, wie es ein Furzkissen macht, wenn man sich nur mit der halben Arschbacke daraufsetzt. Bloß nicht zynisch werden! Wirklich nicht.

Immerhin, eines hat sich verändert, in den Momenten um die Schließung der Wahllokale: Sie reden miteinander! Und zwar sachlich, fast freundlich und kompromissbereit. Sie waren auch nicht mehr auszuhalten, diese festgefahrenen Sprechautomatismen.

„Innovationsgeist fördern und den Markt entfesseln.“

„Respekt und zwölf Euro Mindestlohn.“

„Linksrutsch verhindern.“

„Für echte Veränderung.“

Das mag für abgewichste Politchecker normal sein, aber was für ein Vorbild ist das für junge Menschen?! Sie machen eine Ausbildung, studieren oder arbeiten schon. Sie beschäftigen sich mit Politik wie sie es mit Fußball tun – zur WM (Bundestagswahl) und EM (Landtag) schauen sie mal rein. Und das ist okay. Nur entsteht das Bild einer Politik, die je nach Partei auf festgefahrenen Positionen aufbaut und in der jeder Kompromiss ein Zeichen von unverzeihlicher Schwäche ist.

Immerhin das ändert sich gerade in den muckeligen TV-Runden. Demnächst dürfen die „Vollprofis“ das gerne auch dann machen, wenn alle zuschauen. Das wäre ein respektvoller Umgang, der womöglich sogar für echte Veränderung sorgt.

Adrian Breitling

Und die Welt dreht sich weiter

Die Sonne knallt uns ins Gesicht, als wir uns frühmorgens auf den Weg zum Wahllokal machen. Wahlsonntag. Tag der Entscheidung. Chance, etwas zu verändern. Ein wiederholtes 1998? Die Fridays-Demo prickelt noch in den Händen, die heute ganz frei und geheim mein Kreuz machen werden. Schlangestehen vor dem Lichtenberger Wahllokal, eingereiht in Reih und Glied stehen wir da als pflichtbewusste deutsche Bürger:innen. Und einen kurzen Moment bin ich sogar aufgeregt. Bin ich gleich Teil der Veränderung? Der Verbesserung? Nach 4, nein 16 Jahren, endlich.

Kurzer Moment der Konzentration. Fast schon zu viele Zettel liegen vor mir ausgebreitet. So viel Verantwortung. Kurz die Überlegung, beim Nebenmann einfach abzuschreiben. Doch dann mache ich meine Kreuze, wo ich sie immer mache: möglichst weit rot. Und obwohl die Chancen dieses Jahr sogar da zu sein scheinen, endet es so wie es immer endet.

Keine rot-rot-grüne Wahlparty. Als einzig Rotes bleibt uns nur der Rotwein. Auf dem Weg nach Hause kreuzt ein dubioser Franzose meinen Weg und erklärt, es habe nichts Linkes mehr gegeben seit der Pariser Kommune, auch Sartre sei nur Lifestyle-Linker gewesen und Jour­na­lis­t:in­nen wollten nur Karriere machen, ob taz oder Bild sei egal. Ich solle mich doch einfach der Literatur und dem Gitarrenspielen widmen. Dann verschwindet er. Ich lese: Die Linke zieht doch in den Bundestag dank des gewonnenen Direktmandats aus Lichtenberg. Dank meiner Stimme? Ich weiß gar nicht mehr, ob mich das freut.

Montag. Kopfschmerz. Ich schlucke den schwarzen Kaffee mit Aspirin. Vor dem Penny sitzt derselbe Alki wie jeden Tag und füttert die Spatzen. Das Eis an der Arktis schmilzt konstant weiter, wie seit Jahren schon. Die Po­li­ti­ke­r:in­nen reden. Über große Pläne für die Zukunft vor der Kamera und über große Pläne für sich selbst hinter verschlossenen Türen. Der Himmel über Berlin ist verhangen, der Fahrkartenkontrolleur erwischt mich beim Schwarzfahren, ich fluche und der Planet dreht sich weiter.

Ruth Fuentes

Raus aus der Comfortblase

Es ist kurz vor Mitternacht, ich habe soeben sechs Stunden lang für den Live-Ticker der taz am Wahlabend gearbeitet, und die Euphorie ist völlig dahin, mit der ich morgens ins Wahllokal und mittags zur Arbeit gefahren war.

Meine zugegebenermaßen sehr unrealistische Wunschkoalition Rot-Rot-Grün ist definitiv tot, denn sie hat keine Mehrheit der Sitze. Und auch wenn die Koalition sehr unwahrscheinlich gewesen wäre – dass es so gar keine Aussicht mehr dafür gibt, macht überhaupt keinen Spaß. Das Wahlergebnis der Linken, denen ich all meine Stimmen gegeben habe, ist niederschmetternd.

Vier Monate lang haben mein Wahlcamp und ich Themen aufgegriffen, die uns wichtig waren, es wurden Texte veröffentlicht über Diskussionen mit dem AfD-Onkel, unsichtbare physische Behinderungen und unpolitische Festivals. Wir wollten zeigen, was uns alle betrifft, wovon wir alle profitieren. Und wir bekamen Zustimmung: meine Freun­d:in­nen mochten meine Texte, Fremde schrieben mir digital, wie toll das alles sei, und sogar von der taz Le­se­r:in­nen­schaft gab es hin und wieder Zustimmung.

Diese Wahl, diese gottverdammte Wahl nach einer 16 Jahre dauernden Merkel-Zeit sollte ein bisschen frischen Schwung bringen. Es kann doch nicht sein, dass wir jetzt schon wieder vor denselben Ergebnissen stehen, die wir zuvor schon hatten. Dabei war in den letzten vier Jahren so viel passiert. Fridays for Future, Black Lives Matter, Corona.

Es gibt zwei Möglichkeiten, wie es zu diesem Wahlergebnis kommen konnte. Erstens: Es gab einen massiven Wahlbetrug mit den Stimmen der AfD, FDP und CDU. Oh, wie sehr ich mir das wünschte. Denn jetzt blicke ich in die trostlose Realität. Dass es nämlich – zweitens – keinen Wahlbetrug gab, sondern dass ich mich habe blenden lassen von meiner eigenen Bubble und meinem Medienkonsum.

Die Mehrheit der Deutschen ist alles andere als woke. Sie sind nicht „linksgrün versifft“. Sie blieben für mich all die Jahre unsichtbar, da ich ihnen höchstens mal auf der Straße begegnete, durch ihre Windschutzscheibe. Aber sie sind da. Und sie bestimmen die Politik. Und das ist keine Politik, die meine Lebensrealität verbessert.

Shoko Bethke