Anschlag auf die Adern Londons

Die Attentatserie löst weltweit Entsetzen und die Furcht vor weiteren Terrorakten aus. Blair verlässt vorübergehend G-8-Gipfel in Schottland

VON BARBARA OERTEL
UND BEATE SEEL

In London sind gestern Morgen bei einer Reihe von offenbar koordinierten Anschlägen mindestens 33 Menschen ums Leben gekommen. 150 wurden schwer verletzt, insgesamt wurde gestern Abend mit über 345 Verwundeten gerechnet. Der britische Innenminister Charles Clarke sprach von vier Anschlägen; zunächst war von bis zu sieben berichtet worden (siehe Karte).

Von Explosionen getroffen wurde ein U-Bahn-Zug zwischen den Stationen Aldgate East und Liverpool Street Station sowie ein anderer Zug zwischen Russel Square und Kings Cross. Auch die U-Bahn-Station Edgware Road war betroffen. Außerdem explodierte eine Bombe in einem Doppeldeckerbus am Tavistock Square.

Wie die Londoner Polizei mitteilte, wurden an zwei der Tatorte Spuren von Sprengstoff festgestellt. Ob die Anschläge durch versteckte Sprengsätze oder von Selbstmordattentätern verübt wurden, war zunächst nicht klar. Die Polizei richtete eine Telefon-Hotline ein.

Innenminister Clarke sagte vor dem britischen Unterhaus, es lägen ihm keine Informationen über eine Anschlagswarnung vor. Zuvor hatte es in Israel geheißen, die britische Polizei habe die Botschaft in London Minuten vor den Explosionen vor einem Anschlag gewarnt. Dies wurde später durch den israelischen Außenminister Silvan Schalom dementiert.

Nach den Anschlägen wurde der gesamte U-Bahn-Verkehr in der britischen Metropole eingestellt; im Innenstadtbereich verkehrten auch keine Busse mehr. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, Fahrten in die City zu vermeiden. Die Londoner sollten bleiben, wo sie sich aufhielten, zu Hause oder am Arbeitsplatz. Schulen wurden aufgefordert, die Schüler nicht gehen zu lassen, bis ihre Eltern sie abholten. Der Zug- und Flugverkehr verlief normal.

Die Anschlagsziele, ihre Koordination und die Uhrzeit, zu der sie durchgeführt wurden, wecken Erinnerungen an jene auf Madrider Pendlerzüge im März vergangenen Jahres, bei denen 191 Menschen getötet und 1.800 verletzt wurden. In einem Video übernahm damals die Terrororganisation al-Qaida die Verantwortung für die Tat. Gestern bekannte sich eine bislang unbekannte Organisation namens „Geheime Al-Qaida-Organisation in Europa“ im Internet zu den Anschlägen (siehe Text unten).

Der britische Premierminister Tony Blair sagte am Rande des G-8-Gipfels im schottischen Gleneagles am Mittag, es sei „ziemlich deutlich“, dass es sich um terroristische Anschläge handele. Zunächst war spekuliert worden, Kurzschlüsse hätten die Explosionen ausgelöst. Blair vermutete einen Zusammenhang mit dem Gipfel und nannte es besonders grausam, dass die Anschläge an einem Tag verübt wurden, „an dem wir uns treffen, um etwas gegen die Probleme der Armut in Afrika zu unternehmen“. Blair kehrte gestern vorzeitig nach London zurück, wollte abends aber wieder in Schottland sein.

Weltweit löste die Anschlagserie Entsetzen und die Furcht vor weiteren Terrorakten aus. Die Teilnehmer des G-8-Gipfels sprachen gestern von „barbarischen“ Akten, die sich „gegen alle Nationen“ richteten. „Das ist ein Drama für ganz Europa“, sagte Frankreichs Premierminister Dominique de Villepin. Er sicherte Blair „die sofortige, vollständige und umfassende Zusammenarbeit der französischen Dienste zu, um ihnen zu helfen, die Urheber dieser Verbrechen zu identifizieren“.

Auch Russlands Präsident Wladimir Putin verurteilte die Anschläge. „Wenn solche unmenschlichen Verbrechen geschehen, müssen wir diese vorbehaltlos verurteilen und alle zivilisierten Staaten im Kampf gegen den internationalen Terrorismus vereinen“, zitierte die russische Nachrichtenagentur Interfax gestern aus einer Stellungnahme Putins. Eine Fortsetzung des Kampfes gegen den Terror mahnte auch US-Präsident George W. Bush an. „Der Kampf gegen den Terrorismus geht weiter“, sagte er in Gleneagles. Die Täter von London würden „gefunden und zur Verantwortung gezogen“ werden. „Gleichzeitig werden wir eine Ideologie der Hoffnung und des Mitgefühls verbreiten, die deren Ideologie des Hasses überwinden wird“, so Bush.

EU-Kommissionspräsident José Manuel Durao Barroso betonte, die Europäische Union werde im Kampf „gegen den Terrorismus und für Freiheit und Demokratie“ geschlossen an der Seite Großbritanniens stehen. Das Europaparlament reagierte mit einer Schweigeminute auf die Anschläge. Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer betonte, die Angriffe unterstrichen die Notwendigkeit für die internationale Gemeinschaft und die Mitglieder des Nordatlantischen Bündnisses, „im Kampf gegen den Terrorismus vereint zu bleiben.“

Kurz nach Bekanntwerden der Anschläge wurden die Sicherheitsvorkehrungen fast überall verstärkt, Krisenstäbe eingerichtet, Grenzkontrollen verschärft und bewaffnete Patrouillen in Züge und Busse entsandt. „Ganz Europa ist in Alarmbereitschaft“, sagte der italienische Innenminister Giuseppe Pisanu. Die französische Regierung hob den Terroralarm auf die zweithöchste Stufe. In Washington wurden bewaffnete Beamte mit Spürhunden in die U-Bahnen geschickt, in New York zusätzliche Sicherheitskräfte in den Bahnen eingesetzt.

Angesichts der Flut von Anfragen lassen Reiseveranstalter Umbuchungen von Reisen in die britische Hauptstadt zu. Lufthansa, Dertour und Germanwings teilten mit, kostenlose Änderungen seien möglich seien.