Armstrongs Adjutant

George Hincapie ist der wichtigste Helfer des sechsmaligen Toursiegers aus Texas. Erst jagt er bei den Radklassikern über Katzenköpfe, dann nimmt der eilfertige US-Amerikaner in Frankreich steile Pässe

VON SEBASTIAN MOLL

Die meisten Profisportler, besonders diejenigen, die sich zur Weltklasse zählen, erinnern sich nur an wenige Gesichter. Als Journalist muss man dann schon für ein sehr wichtiges Medium arbeiten beziehungsweise etwas außergewöhnlich Gutes oder Schlechtes geschrieben haben, um wiedererkannt zu werden. Nicht so bei George Hincapie. Auch nach Monaten, in denen man ihm nicht begegnet ist, verblüfft einen der großgewachsene, gutaussehende Radprofi aus New York mit einem warmherzigen Empfang. Bevor man sich erneut vorstellen kann, fragt er, wie es einem denn so ergangen sei und was man denn so treibe.

Der derzeit an vierter Stelle der Tour liegende Amerikaner, der einzige Begleiter Lance Armstrongs bei allen seiner sechs Siege, ist eigentlich zu nett für sein Gewerbe. Besonders wenn man bedenkt, dass er, wenn er nicht Armstrong sekundiert, ein Spezialist für das härteste Rennen im Radsport ist: Paris–Roubaix. Fünfmal kam er bei der Mutter aller Straßenschlachten schon unter die ersten sechs; in diesem Jahr schrammte er an seinem Traum von einem Sieg nur um Millimeter vorbei und wurde Zweiter. Ja, sicher, dieser zweite Platz sei auch schön, sagte er danach artig und ein wenig schüchtern in die Kameras. Vorher hatte er sich sechs Stunden lang einen Kampf bis aufs Blut mit dem Belgier Tom Boonen geliefert, hatte den holprigsten Straßen Europas getrotzt und Unmengen von jener zahnpastaartigen Masse aus zähem Schlamm geschluckt, die den Fahrern von den spitzen nordfranzösischen Katzenköpfen ins Gesicht spritzt.

Mit Paris–Roubaix endet für die meisten Klassiker-Spezialisten die Saison. Sie fahren im Sommer noch ein paar Rennen, um im Tritt zu bleiben. Ernst machen sie erst wieder im Herbst, wenn die Vorbereitung auf das nächste Frühjahr beginnt. Nicht so George Hincapie. Er fliegt von Roubaix aus nach Hause – nach North Carolina. Dort hat er sich in einem kleinen Ort am Fuße der Great Smokey Mountains ein Haus gekauft.

Die Wahl der Lage hatte nur einen Grund: Der 1,88 große, schwere Klassikerspezialist wollte das Klettern lernen, damit er Lance Armstrong bei der Tour eine größere Hilfe sein kann. Von Mitte April bis zur Tour schindet er sich hier jeden Tag die Anstiege zum Blue Ridge hinauf, um im Juli Armstrong in den Alpen und Pyrenäen sicher in die Schlussanstiege bringen zu können.

Was der freundliche New Yorker tut, gilt in der Radsportwelt eigentlich als unmöglich. Nach der Klassikersaison sind die meisten Fahrer so ausgepumpt, dass sie für den Rest des Jahres nicht mehr ernsthaft zu gebrauchen sind. Ganz abgesehen davon, dass man ihnen gemeinhin nicht zutraut, große Berge im Tempo der besten Rundfahrer bezwingen zu können. Doch Hincapie macht beides möglich. Er ist Jahr für Jahr bei Paris–Roubaix und bei der Tour in Topverfassung und kann beinahe so gut sprinten wie klettern. „George ist eine absolute Ausnahme“, sagt der Sportdirektor der Discovery-Mannschaft, Johan Bruyneel. „Ich weiß nicht, wie er das macht, aber er macht es.“

Dabei hat der so außergewöhnlich nette wie außergewöhnlich harte Sohn kolumbianischer Einwanderer laut einem amerikanischen Journalisten „den Killerinstinkt eines scheuen Waldrehs“. Das ist vermutlich auch der Grund, warum er nicht wie andere ehemalige Adjutanten Armstrongs die Mannschaft gewechselt hat, um seine eigene Karriere zu verfolgen. Das Zeug zu einem äußerst respektablen Lebenslauf als Siegfahrer hätte er jedenfalls gehabt. Doch Hincapie sagt, es sei ihm lieber, Teil des historisch einzigartigen Unternehmens Armstrong zu sein.

Und so ist er vermutlich der wichtigste Teil dieses Unternehmens neben Armstrong selbst geworden. Armstrong sagt über Hincapie, dass dieser sein engster Freund in der Mannschaft sei, und dass die Anwesenheit von Hincapie während der Tour ihm eine unheimliche Sicherheit gebe. Hincapie funktionert beinahe wie ein Körperteil von Armstrong – er erhöht dessen Tretkraft und schärft dessen Seh- und Hörvermögen: „Er hat einen absoluten Renninstinkt“, lobt Armstrong. „Er merkt es sofort, wenn sich im Feld etwas zusammenbraut.“

Auf dem Siegerpodest steht am Ende der Frankreich-Rundfahrt dann freilich nur sein Chef alleine. Ein wenig Podiumsglanz hat der Inbegriff eines Edelhelfers dennoch abbekommen – im vergangenen Jahr heiratete er Melanie, eines jener unglaublich hübschen Mädchen, die bei der Tour die Sieger küssen. Jetzt küsst Melanie den wichtigsten Beifahrer des größten Radprofis aller Zeiten. Und das auch noch, nachdem George Hincapies glanzvolle Jahre an Armstrongs Seite am 24. Juli endgültig zu Ende gehen.