Mit dem Gehstock zum Groove

REGGAE 8.500 Kilometer nordöstlich von Kingston liegt das Haus der Kulturen der Welt. Hier brachten die Reggae-Pioniere Ernest Ranglin, Sly & Robbie und Tyrone Downie die Leute ins Schwitzen

Seelenruhig spricht Robbie Shakespeare ins Mikrofon: „Ladies and gentlemen, I wanna introduce you to the doctors. After an hour of brain and heart surgery, you will all feel much better.“

Am Freitagabend begrüßte Berlin im Haus der Kulturen der Welt ein Stück Musikhistorie: Ernest Ranglin, Sly & Robbie und Tyrone Downie hatten sich unter dem redlichen Bandnamen Jamaican Legends versammelt. Im Rahmen der Konzertreihe HKW Royal zelebrierten die Herren musikalische Traditionen ihrer Heimat, welche sie selbst maßgeblich beeinflusst haben. Die Mitglieder von Jamaican Legends sind allesamt aber nicht nur Reggaemusiker der ersten Generation, sondern auch hervorragende Jazz-Improvisateure.

Bassist Robbie Shakespeare ist für die Moderation und sanftmütige Gesangseinlagen zuständig. Mit Schlagzeuger Sly Dunbar formierte er eine produktivsten Rhythmusbands der Geschichte, die unter dem schlichten Namen Sly & Robbie auftrat. Sly & Robbie spielten für die Rolling Stones, Bob Dylan und Carlos Santana. Auch jüngere Künstler setzen auf Sly & Robbies Taktgefühl, Songs von den Fugees und No Doubt gehören zu den rund 200.000 Produktionen, auf denen das Duo zu hören ist. Sly Dunbar, der mit Feuerwehrhelm, knallrotem Jumpsuit und Gehstock auf die Bühne hinkt, zeigt – an den Drums angekommen – keinen einzigen Moment der Schwäche.

Sehr unscheinbar versteckt sich das Genie hinter dem Schlagzeug und zeichnet Schlagfiguren, die er selbst erfunden hat. Nur wenige Male meldet sich das Schlagzeug markant zu Wort, um der Band ein Solo anzukündigen, das das Publikum sofort ins Staunen versetzt. Die Bestuhlung im Saal leert sich tröpfchenweise. Karibische Klänge von Keyboarder Tyrone Downie beleben die Hinterteile der Zuschauer endlich und bringen sie zum Tanzen.

Als jüngstes Mitglied der Band versäumt Tyrone Downie nicht, bei jeder Gelegenheit seinen Kollegen Respekt zu zollen. Dabei hat der Pianist schon auf legendären Alben von Peter Tosh und Burning Spear gespielt und war festes Mitglied von Bob Marleys Band The Wailers. Ein beglückender Moment reicht jedoch, um Downie in die Knie zu einer ehrfürchtigen Verbeugung zu zwingen: Ernest Ranglin, 80 Jahre alt, Vater des Ska, improvisiert auf seinem legendären Stück „Surfin“. Er reitet mit der E-Gitarre auf den Wellen eines erweiterten Bewusstseins, ohne Tempo und Thema auch nur ansatzweise zu verlieren. Ranglin hat ein Repertoire an rhythmischen Möglichkeiten verinnerlicht, das sich leichtfüßig und ganz von selbst aus ihm heraus spielt. Unbetontes zu betonen und vier Takte später genau das Gegenteil zu tun, das ist unter anderem Ernest Ranglins Pionierleistung für den Reggae, der sich Ende der 60er aus dem Ska formiert hat, zu dessen Urhebern Ranglin zählt.

Bei Klassikern wie „Lively Up Yourself“ und „You Don’t Love Me (No, No, No)“ schaukelt der Zuschauerraum fast synchron. Karibisches Klima erhitzt den sterilen Saal des HKW. Nach etwa einer Stunde haben die legendären Doktoren sich den Feierabend verdient und warten artig am Bühnenrand auf die Zugabe-Rufe, um im Schneckentempo wieder zurück ins Rampenlicht zu watscheln. Alle fühlen sich großartig. FATMA AYDEMIR