Der versteckte Weg zur Insel

Bei Ebbe verbindet der Gois, ein über vier Kilometer langer Damm, die Île de Noirmoutier im Nordwesten Frankreichs mit dem Festland. Neben dem weltberühmten Fleur de Sel ist die von der Natur geschaffene Nabelschnur zum Festland die Attraktion der urwüchsigen Ferieninsel

VON REINER LEINEN

Unverbaute Strände, ein Meer weiß getünchter Häuser, Austernzuchten, die Salzgewinnung in den Marais Salants: Die Île de Noirmoutier vor der Côte de Lumière hat einiges zu bieten. Ihr größter Reiz aber ist ein grandioses Naturschauspiel: die Passage du Gois, ein Damm, der die Insel bei Niedrigwasser mit dem Festland verbindet.

Die wuchtige Anzeigetafel vor der Tankstelle von Beauvoir-sur-Mer ist nicht zu übersehen: vier mal sechs Meter groß und mit gelben Leuchtzahlen versehen. Die für heute lauten: zwei-null-drei-fünf. Um 20.35 Uhr also wird heute Abend das Wasser seinen Tiefstand erreicht haben, neunzig Minuten vorher und nachher ist die Passage du Gois passierbar. Davor und danach geht nichts und selbst während dieser Zeit ist man nur bei gutem Wetter und großem Tidenhub wirklich auf der sicheren Seite. Dann kommt unweigerlich das Wasser, und der Damm, der das Festland mit der Île de Noirmoutier verbindet, wird überflutet und wird als Verbindungsweg nicht weiter existieren, bis er erneut aus dem Meer auftaucht, zweimal am Tag, alle zwölfeinhalb Stunden, seit hunderten von Jahren.

Noirmoutier ist eine Urlaubsinsel, knapp 10.000 Einwohner, ein Vielfaches an Feriengästen im Sommer. Sie wohnen in schnuckeligen Dörfchen wie La Guerinière, vis-à-vis dem kleinen Yachthafen von L’Herbaudière oder im schattigen Bois des Éloux von L’Épine. Die schlichten Inselhäuser sind weiß getüncht und zumeist eingeschossig, geschmückt mit Fensterläden von Himmelblau bis Türkis, von Stockrosen und Hibiskusblüten geziert und allüberall von verwilderten Gärten umgeben. Mehrstöckige Bausünden – Fehlanzeige. Stattdessen ducken sich zwei Dutzend noch erhaltene Windmühlen in die Dünenlandschaft, Radwege durchziehen die Insel, draußen am Vorzeigestrand der Plages des Dames schmücken weiße Holzkabinen und bunte Segler die kleine Bucht. Am Pier Estacade versuchen die Angler ihr Glück, und in den Salzgärten der Marais Salants wird in Handarbeit das Salz gewonnen, das als Fleur de Sel weltweit Gourmets und Spitzenköche verzückt.

Die Île de Noirmoutier ist ein Idyll, keine Frage. Ihre größte Attraktion aber ist der Gois. Viertausendeinhundertundfünfzig Meter lang, ist er der ganze Stolz der Inselbewohner, ihre Nabelschnur zur großen, weiten Welt, zugleich Aushängeschild, um das sich Mythen und Anekdoten zuhauf ranken.

Als Ergebnis gegenläufiger Strömungen auf natürlichem Wege entstanden, findet der Gois erstmals zu Beginn des 18. Jahrhunderts Erwähnung in einer geografischen Karte, die erste Überquerung wird einem gewissen Auguste Gauvrit aus dem Inseldörfchen Barbâtre zugeschrieben. Die Verbindung zwischen der Insel und le continent, wie die Insulaner das Festland der Vendéeküste gern nennen, ward geboren und für alltagstauglich erklärt. Fortan werden Schafe, Kühe und Schweine über den Damm zum Markt getrieben, Damen reisen auf Eselsrücken, Familien werden in Kutschen über die Traverse hinweg zum Verwandtenbesuch gekarrt. Bald schon werden Pfähle als Rettungsbojen, im Jahre 1830 die ersten Anschlagtafeln zum Anzeigen der Gezeiten errichtet, zehn Jahre später wird die erste regelmäßige Fahrverbindung zwischen Insel und Festland etabliert: ein Pferdekarren.

Viel später erst, in den Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts, wird die Passage in mühsamer vierjähriger Arbeit, die sich dem Takt der Gezeiten zu unterwerfen hat und mehr als zwei Arbeitseinheiten von je zwei Stunden pro Tag halt nicht zulässt, gepflastert und befestigt, wird das Reisen einfacher, die Überfahrt zeitlich kalkulierbarer und auch für Motorfahrzeuge möglich. Zynischerweise gerade rechtzeitig, um den deutschen Soldaten den Übergriff auf die Insel zu erleichtern. Aber der Gois ist auch der Weg, den sie nehmen, als sie Noirmoutier im Jahre 1944 wieder verlassen müssen.

Die Bezeichnung Gois geht zurück auf einen mundartlichen Ausdruck des Altfranzösischen, der sehr plastisch deutlich macht, um was es geht: das Verb goiser meinte eine Art der Fortbewegung, vorzugsweise in Holzschuhen, bei der man sich die Füße nass machte.

Und so gewinnt denn die Passage du Gois bis heute einen Großteil ihrer Faszination aus der Gefahr, die das rasch auflaufende Wasser mit sich bringt. Wer sich um Ebbe und Flut nicht schert, vielleicht gar beim Schneckensammeln und Austernsuchen im Watt gedankenverloren die Zeit vergisst oder wer ein technisch nicht ganz einwandfreies Kraftfahrzeug über den Damm steuert, findet sich vielleicht schon alsbald auf einer der neun balises refuges wieder, der soliden Rettungsmasten und -plattformen, die heute ihre hölzernen Vorgänger ersetzen, nachdem jene von den Fluten mitgerissen wurden. Hierhin kann man im Notfall sein Leben retten, nicht aber das mitgebrachte Fahrzeug. Dann gilt es – je nach Wasserstand bei einem Tidenhub zwischen 1,30 und 4 Metern –, auf einer der obersten Sprossen zu warten, bis das Wasser zurückgeht oder die Besatzung eines Fischerbootes auf die Notsituation aufmerksam wird. Ein Arrangement, das ab und an schwere menschliche Schicksale heraufbeschwört. Immer wieder wird die Geschichte jenes motorisierten Insulaners kolportiert, der sich neben einer der Rettungsbojen eine kleine Verschnaufpause bei der Überfahrt zugestand, darüber allerdings unglückseligerweise in einen tiefen Schlummer verfiel, aus dem er erst wieder aufwachte, als das Wasser bereits die Unterkante des Autofensters erreicht hatte. Heute schmückt ein Foto seines Fahrzeugs die Schaukästen der Anzeigetafeln an den Zufahrtsstraßen zum Gois. Allen Wagemutigen und Unbedachten zur innigen Mahnung.

Immer wieder allerdings wird die Gefahr auch bewusst gesucht, der Gois als Herausforderung zwischen Mensch und Naturgewalten verstanden. So gelang in den Sechzigern die erste Lkw-Überquerung der Passage bei Flut, und seit 1967 finden sich alljährlich im Juni hunderte von Läufern aus dem In- und Ausland zu den Foulées du Gois ein, einem Laufwettbewerb, bei dem es gegen die Geschwindigkeit des auflaufenden Wassers anzukommen gilt.

Weit weniger gefahrvoll, dafür aber äußerst werbewirksam in Szene gesetzt kam ein anderes sportliches Ereignis daher: Am 5. Juli 1993 wurde das Fahrerfeld der Tour de France erstmalig über den Gois geführt, telegen in die Fernsehstuben der Grande Nation übertragen. Beim zweiten Anlauf, den glitschigen Untergrund des Damms in die Streckenführung der Tour einzubinden, offenbarte sich die ganze Tücke der Passage. 1999 gab es einen Massensturz, der dem Mitfavoriten Alex Zülle bereits auf der zweiten Etappe sechs Minuten Rückstand einbrachte, den er bis Paris nicht mehr aufzuholen vermochte. Es setzte sich die Erkenntnis durch, derartige Risiken, die massive Auswirkungen auf das Endresultat haben können, fortan zu meiden.

Die Geschichte der Passage du Gois verlief im Übrigen nicht immer frei von Krisen. Als am Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine regelmäßige Schiffsverbindung zur Insel eingerichtet wurde und damit Verlässlichkeit und Komfort der Überfahrt stiegen, wurde der Gois zeitweilig deutlich weniger frequentiert. Und als schließlich im Jahre 1971 die Brücke zwischen der Südspitze der Insel und dem Städtchen Fromentine auf dem Festland eingeweiht wurde, galt es als beschlossene Sache, dass die Bedeutung des Gois unter der Neuerung beträchtlich leiden würde.

Doch weit gefehlt. Zwar vollzog sich fortan ein Großteil des Warenaustauschs über die neue Brücke, und mit zunehmender Bequemlichkeit stieg die Zahl der Touristen in gewünschtem Maße. Doch viele Einheimische wie Inselbesucher unterliegen weiter dem Charme des Gois, planen ihre An- und Abfahrt und die sporadischen Ausflüge aufs Festland nach den Gezeiten und ziehen eine holperige Fahrt über die chaussée déformée einem glatten Rutsch über die gesichtslose Brücke vor. Denn nur auf der Passage du Gois gibt es den ultimativen Ausblick: die im Gegenlicht der untergehenden Sonne wie dahin geworfen im Watt liegenden Fischerboote. Und den Kitzel, vielleicht dieses Mal zu denen zu gehören, die sehr bald schon eine packende Geschichte zu erzählen wissen.