Schuster lässt die Frauen leiden

THEATER Mit Büchners „Woyzeck“ von Robert Schuster startet das Schauspiel ebenso klassisch wie beachtlich in die neue Saison – da fragt man sich, wo Gurlitts „Wozzeck“ bleibt

Verpasste Chance: überregionale Aufmerksamkeit durch Gurlitts „Wozzeck“

Von Henning Bleyl

Nach einem fulminanten Opernstart mit Bellinis „Norma“ startete jetzt auch das Schauspiel mit einem der klassischsten Bühnenklassiker überhaupt in die neue Saison: „Woyzeck“ von Georg Büchner, bekannt aus Feuilleton und Grundkurs Deutsch, in der – geschätzt – 507. deutschsprachigen Inszenierung. In diesem Fall von Robert Schuster. Resümee: Die Latte hängt hoch – wenn auch nicht ganz so hoch wie im Musiktheater.

Schuster fühlt sich in seinem „Woyzeck“-Zugriff weder der Lesart „Proletariertragödie“ noch einer eher apolitischen Interpretation als „Moritat“ im Stil einer szenischen Volksballade verpflichtet. Bei ihm ist Woyzeck, der gleichermaßen von inneren Stimmen wie von äußeren Zwängen getriebene Soldaten, der seine Geliebte Marie ermordet, ein vielschichtiger Mensch mit einer psychologisch nachvollziehbaren Entwicklung.

Mit Timo Lampka als Titelfigur schrammt Schuster knapp aber ausreichend über die seit Klaus Kinskis Woyzeck-Darstellung (im Werner Herzog-Film von 1979) sprichwörtliche Klippe, den Woyzeck „zu mächtig“ zu besetzen – also mit einer Gestalt, der man das Geworfensein in die Verhältnisse oder, konkret, das Ausgeliefertsein innerhalb einer militärischen Hierarchie, gar nicht abnimmt. Lampkas Woyzeck hat zwar genügend Aggressionspotential, um seine Marie in einer fast unerträglich langen Szene mehrfach zu ermorden, die Machtlosigkeit gegenüber noch gewalttätigeren Geschlechtsgenossen nimmt man ihm trotzdem ab. Wobei ihn Schuster in deutlicher Abwandlung der Büchner‘schen Vorlage mehrfach aus der „Schusslinie“ nimmt, in dem an Woyzecks Stelle der Soldat Andres und vor allem Marie wüst drangsaliert werden. Sind gedemütigte Frauen auf der Bühne interessanter als männliche Opfer?

Schusters extrovertierte Gewaltszenen vermitteln diesen Verdacht durchaus, insofern müsste Heiner Müllers allgemeine Beileidsbezeugung gegenüber dem „vielmal vom Theater geschundenen Text“ explizit auf Varia Linnéa Sjöström und Johanna Geissler (eine sehr gut besetzte Marie) ausgedehnt werden. Ein anderer Teil der Szenen beim Doktor (bei Schuster auch gern mal eine Ärztin), dem Woyzeck als Erbsendiätversuchsobjekt zu Diensten ist, werden hingegen von Siegfried Mascheks Spiellust wunderbar ins Zynisch-Komödiantische transformiert.

Auch, wenn manche Szene ein wenig zerfasert und überflüssig wirkt – dann wird hier ein wenig kopuliert, dort gepöbelt, da ins Leere gesprochen oder in den Schritt eines Kollegen gegriffen – hat Schuster einen eindrücklichen Abend gestaltet, der durch Sascha Gross‘ weitgehend ausgeweideten Bühnenraum adäquat mitgetragen wird. Eine ganz eigene, sehr hoch zu schätzende Qualität kommt durch Christian Sengewalds Puppenspiel hinzu, das Woyzecks und Maries gemeinsamen Sohn verkörpert.

Wohlmöglich schafft Schuster, wie ihm das vergangenes Jahr bereits mit „Die Bakchen“ gelungen ist, mit „Woyzeck“ bereits einen Saison-Höhepunkt. In der eher retrospektiv ausgerichteten aktuellen Spielzeit firmieren eine Fellini-Filmadaption und „Pinocchio“ als die einzigen „Uraufführungen“. In der Oper steht mit „Die Gehetzten“ von Bernd Redmann immerhin eine veritable Neuschöpfung auf dem Programm – neben durchaus spannenden Ausgrabungen wie dem Zemlinsky-Doppeleinakter „Eine florentinische Tragödie“ und „der Zwerg“, die in einer Woche Premiere haben.

Allerdings hat das Bremer Theater abermals die Chance verpasst, mit einer Aufführung von Manfred Gurlitts „Wozzeck“-Oper überregionale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Gurlitts Büchner-Adaption wurde 1926 in Bremen, wo Gurlitt als erster Kapellmeister arbeitete, uraufgeführt. Vor Ort ist Gurlitt mittlerweile ziemlich unbekannt, selbst im Ergänzungsband des Bremen-Lexikons fand sich kein Platz für den Musiker, der hier die „Gesellschaft für neue Musik“ gründete. Auch sein „Wozzeck“ wurde von Alban Bergs gleichnamiger, vier Monate zuvor entstandener Oper rasch verdrängt, abgesehen von einer Aufführung in der Ära Arno Wüstenhöfer, also vor 30 Jahren. Umso spannender wäre eine Reanimierung gewesen – zum Beispiel als Doppel mit einem Büchner im Schauspiel.

Statt dessen glänzt Luzern zum Saisonstart mit der spektakulären „Wozzek“-Wiederentdeckung: Vor zwei Wochen wurden Gurlitts „blühende Klangphantasie“, seine „klugen und pointierten Szenen“ allerorts vom Feuilleton gefeiert. Ein Bremer Eigentor und verpasste Steilvorlage fürs hiesige Theater, die umso unverständlicher ist, als die Regisseurin der Luzerner Inszenierung, Vera Nemirova, durchaus auch an der Weser arbeitet.