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Musikpionierinnen und Klitorisforschung

Drei Tage lang Genderdinge unter freien Himmel: Das Im-weitesten-Sinne-Kunstfestival „Gap* the Mind“ in Braunschweig widmet sich Fragen zu Feminismus und Diversität

Corona­konform auch schon im vergangenen Jahr: „Die H_lle“-Festival 2020 Foto: Die H_lle

Von Bettina Maria Brosowsky

Feminismus heute? Erschöpft sich ja längst nicht mehr nur in der Forderung nach einer Gleichstellung von Frauen in Alltag, Bildung und Beruf, ihrem selbstverständlichen Zugang auch zu Schlüsselpositionen etwa in Wirtschaft, Politik oder Kultur: Unter dem Begriff Intersektionalität breitet sich eine ganze Palette bisher noch wenig beachteter, zu bekämpfender Diskriminierungsvarianten aus. So wird den Belangen nichtweißer, queerer, minderprivilegierter oder migrantischer Frauen immer noch nur geringes Interesse entgegengebracht, politisches wie mediales; auch lässt die Präsenz von Frauen – oder, breiter: Nichtmännern – in Geschichtsbüchern oder ihre Rollenzuschreibung in anderen Schulmaterialien noch arg zu wünschen übrig. Und das sind ja wirklich nur einige angerissene Punkte.

Von Skulptur bis Film

Solche Themenfelder mit all ihren jeweiligen Erkenntnisdefiziten bewegten auch die fünf Aktivistinnen des Kunstvereins „Die H_lle“ in Braunschweig, die seit 2018 jeweils im Sommer ein mehrtägiges Freiluft-Festival veranstalten. Im vergangenen Jahr ehrten sie Christoph Schlingensief, einst Professor für Kunst in Aktion an der örtlichen Kunsthochschule. In diesem Jahr geht es unter dem Wortwitz „Gap* the Mind“ nun um Fragen zu Feminismus, Genderstereotypen und Diversität. Die künstlerischen Arbeiten – insgesamt sind 17 Positionen berücksichtigt – reichen laut den Veranstalterinnen von Performance, Skulptur und Fotografie bis zum Film; dazu gibt es ein umfangreiches kostenloses Rahmenprogramm.

Das Ganze startet am Freitagabend unter anderem mit einem Konzert der gemischtgeschlechtlichen, siebenköpfigen Braunschweiger Funk-Soul-Band Kleopetrol um Sängerin Tiana Kruskic. Samstagmittag wird es dann handfest: Mit Mitra Wakil, Künstlerin und Professorin an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, wird im „3D-Klit-Workshop“ die weibliche Klitoris erforscht und auch deren drucktechnische Darstellung thematisiert.

Die gebürtige Afghanin Wakil verortet sich selbst zwischen politischem Aktivismus und kritischem Technologieverständnis und erforscht künstlerisch die „Digitalität“: Diese kulturelle und gesellschaftliche Folge der Digitalisierung zeigt sich in Veränderungen der Wissensproduktion, der sozialen Interaktion oder auch des Zugangs zu Ressourcen. Dass damit neue geschlechtsspezifische Diskriminierungen einhergehen, steht außer Frage; inwieweit sie das tun, harrt weiterer intersektionaler Beobachtung.

Technologie-Träumerinnen

Der 2020 produzierte Film „Sisters with Transistors“ von Lisa Rovner widmet sich am Abend dann den technologischen Träumen einiger kaum bekannter Pionierinnen der elektronischen Musik des 20. Jahrhunderts. Die subversive Kraft ihrer Kompositionen kommentiert etwa die multidisziplinär arbeitende Künstlerin Laurie Anderson.

Wer noch weiterer aktiv werden möchte oder wer an konkreter Selbsterfahrung interessiert ist, kann am Sonntag mit der Braunschweiger Diversity-Trainerin Türkân Deniz-Roggenbuck die eigenen Denkmuster hinterfragen – unter dem Motto: „Burning down the House?“ Branka Čolić, in Bremen geborene Künstlerin und Schauspielerin, wird mit ihrer Performance „#Attitude2021“ dann den offiziellen Teil des Festivalprogramms beschließen.

Neuerlich wird ein Kunst­parcours im Freigelände installiert, unter anderem mit Arbeiten der im Norden gut bekannten Künstlerinnen Schirin Kretschmann, Joanna Schulte und Elizabeth Wurst. „Die ­H_lle“-Betreiberin Henrike Wenzel und der Verein verstetigen mit derartigen Aktionen und Programmen geschickt die Präsenz dieses alternativen Kulturortes in Braunschweig. Sein morbid improvisierter Charme rund um die einstige Holzlagerhalle am Hauptgüterbahnhof hat sich mittlerweile herumgesprochen bis nach Hannover: Die niedersächsische Architektenkammer nutzte den Ort im Rahmen des diesjährigen „Tages der Architektur“.

„Gap* the Mind“: 27.–29. 8., Braunschweig, Die H_lle, Am Hauptgüterbahnhof 22 a; alle Veranstaltungen sind kostenfrei, für einzelne Programmpunkte – Eröffnung/Konzert, Open-Air-Kino, Workshops – ist eine Reservierung/Anmeldung nötig: https://gapthemind.kunstvereindiehalle.de

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