Osman Engin Die Coronachroniken
: Das Coronatrauma

Foto: privat

Osman Engin ist Satiriker in Bremen. Zu hören gibt es seine Kolumnen unter https://wortart.lnk.to/Osman_Corona. Sein Longseller ist der Krimi „Tote essen keinen Döner“ (dtv).

Meine kleine Tochter Hatice ist seit der Coronapandemie ständig am Heulen. Für meine Frau Eminanim stand der Schuldige von Anfang an fest. Nein, nein, nicht die Chinesen, oder die bösen Coronaviren, die sind völlig unschuldig, sondern ich! Ihr Vater! Besser gesagt, ich bin das Virus, das unsere Tochter mit Angst infiziert hat.

„Osman, wie oft habe ich dir gesagt, dass du nicht Nachrichten gucken sollst, wenn sie dabei ist? Siehst du? Jetzt hat sie ein Trauma fürs Leben bekommen, das arme Kind!“

„Hatice, hab doch keine Angst, mein Kind. Dieser Covid-19 ist sehr kinderlieb. Er tut den Kindern gar nichts“, versuche ich sie zu trösten – ohne Chance!

„Das weiß Hatice doch längst! Sie weint nicht um sich selbst, sondern um uns, weil wir zur Risikogruppe gehören“, meint ihre Mutter vorwurfsvoll.

Ich mache sofort den Fernseher aus. Daraufhin schaltet meine Tochter schnell einen Gang höher: „Öööö-eeeüü! Üüüü-weeee!“

„Jetzt hast du sie coronasüchtig gemacht“, schimpft ihre Mutter.

Ich darf den Fernseher weder an- noch ausschalten. Ich mach das Radio an.

„Hatice, mein Kind, hast du gehört, Millionen Infizierte haben dieses blöde Virus bereits besiegt. Sie haben das Virus getötet“, übersetze ich die gute Nachricht in die Kindersprache.

Ihr Heulen ist inzwischen sicherlich zwei Straßen weiter zu hören.

„Hatice weint jetzt um die anderen Infizierten, die leider immer noch krank sind“, übersetzt Eminanim Hatices Kindersorgen in die Erwachsenensprache.

„Hatice, hast du gehört? Es gibt bereits sehr viele Impfstoffe gegen diese nervigen Coronaviren. Die doofen Viren werden aber so was von plattgemacht!“

„Öööö-eeeeeeee!!“

Eminanim schnappt sich eiligst eine große Flasche Desinfektionsmittel und fängt eifrig an, überall zu wischen.

„Hatice, guck doch! Ich mach sie kalt. Die Türklinken, die Lichtschalter, die Stühle, den Tisch. Hier lebt garantiert kein einziges Virus mehr. Die sind alle tot! Mausetot! Bye bye, Covid-19!“, lacht ihre Mutter.

„Ööööeeööö-üüüweeeee!“, weint die Tochter.

„Deine Mutter ist eine Mörderin“, versuche ich witzig zu sein, um sie abzulenken. „Ich hab’s gezählt. Sie hat genau 2.385 Viren kaltblütig umgebracht. Eminanim, die Serienkillerin! Hihihi …“

„Mama, du sollst sie nicht töten! Öööö-üüüüeeee!“

„Wie bitte? Was soll sie nicht töten?“, frage ich völlig verwirrt.

„Warum wollen denn alle diese armen Viren töten, verdammt?“, jammert sie. „Die Ärzte töten sie, die Infizierten töten sie, Mama tötet sie! Die wollen doch nur in Ruhe leben – wie wir! Der arme Covid-19.“