PETER UNFRIED über CHARTS
: Bitte komm nach Chicago!

Wahltagebuch (III): Crosby, Stills & Nash in der Toskana – was hat das mit Joschka Fischer zu tun?

Auf der Piazza Napoleone im Zentrum des Toskana-Städtchens Lucca steht eine Freiluftbühne. Dort erscheinen eines lauschigen Juliabends drei ältere Herren und beginnen zu spielen. Und zwar: „Carry on“ und „Marrakesh Express“. Oooh.

Crosby, Stills & Nash. Unsere Woodstock-Helden. Am Ende: In der Toskana, dem Nirwana der 68er. Es muss eine Mauer aus Stein um das Herz haben und (oder sehr jung sein), wer bei dieser mächtigen Symbolik nicht sofort an Joschka Fischers Zukunft denkt, an die von Antje Vollmer und Sigrid Skarpelis-Sperk, an die mögliche Bundestagswahl. Von der sich ja mittlerweile selbst das kleinste Arschloch noch seinen großen inneren Sie-wissen-schon-was erhofft: den finalen Arschtritt für alles, was unter „68er“ läuft.

Eine Kurzkritik von Bewegung und Band geht so: Sie wollten die Welt verändern, und sie haben dafür gestritten. Bis aufs Blut. Vor allem Steven Stills mit Neil Young. Nur Gott (der ja wieder im Kommen ist) wird abschließend beurteilen können, ob es tatsächlich um eine bessere Welt oder letztlich doch um etwas viel Wichtigeres ging – ihr kleines, beschissenes Ego.

Keine Ahnung, ob das Zeitgefühl, das C, S & N (und bisweilen Y) bis 1970 in ihren Lyrics ausdrückten, die Politisierung der Zivilgesellschaft, authentisch, ehrlich oder auch ökonomisch motiviert war. Aber diese Leute haben immerhin etwas erlebt, was ihre Kunst beeinflusste. Und die wiederum brachte die Leute auf die Straße. Hört euch mal Graham Nashs „Chicago“ heute an: Das ist die Aufforderung, 1968, auf dem Höhepunkt des Protests gegen Johnsons Krieg in Vietnam, zum Wahlkongress der Krieg führenden Demokraten nach Chicago zu kommen. Und jetzt ist 2005, und die alten Männer jagen dem putzig klingenden „We can cha-ha-hange the world“ immer noch ein trotziges „Yes, we can“ hinterher. Es ist genau diese bombastische Rhetorik, die Hybris, was die einen als anachronistisch und widerlich anmaßend, die anderen immer noch als wunderbar anmaßend und sehr modern empfinden.

Zwischen den Songs nennen C, S & N den derzeitigen US-Präsidenten „monkey in the White House“. Das kann man als wohlfeil empfinden. Aber im Publikum stehen Amerikanerinnen. Lehrerinnen. Sie seufzen. Reden darüber, dass Bushs Amerika immer furchtbarer werde, dass sie ihren Kindern zur Flucht raten.

Joschka Fischer hat übrigens auch ein trotziges „Yes, we can“ als Leitmotiv seines Wahlkampfsongs, den er in diesen Tagen mal als Rede im Bundestag, mal als Interview in Zeitungen variiert. „Yes, we can“ meint zunächst einen weiteren Wahlsieg von Rot-Grün – ein Glaube, den Fischer derzeit exklusiv hat und den er daher laut und mit Hinweis auf die Geschichte (2002!) fortzupflanzen versucht. Je länger ich freilich Nash „Chicago“ singen höre, desto mehr höre ich auch bei Fischer hinter dem Willen zum Sieg immer noch das grundsätzliche „We can change the world“ heraus. Hier stehen WIR, da stehen die anderen. Es geht um alles. Immer noch. Gerade jetzt. Also: Komm nach Chicago, niemand sonst kann deinen Platz einnehmen. Abgesehen von jenen, die Fischer unwiederbringlich verloren hat, weil er aus ihrer Sicht eine Art Vietnamkrieg geführt hat – wer glaubt ihm? Wer hat Bedarf? Wer sieht die Welt hinter dem Arbeitsmarkt? Wer ist nicht matt? Wer sind wir? Entschuldigung: Man sinniert halt manchmal rum.

Eigentlich ist es bloß eine wunderbare Nacht in Lucca. David Crosby singt: „Almost cut my hair“. Und ich denke: Verdammt, ich auch! Und daran, dass es Leute gibt, die Daniel Cohn-Bendit hassen. Weil er wegen jeder Büroklammerverordnung der EU rumschreit und rumfuchtelt, als mache er grade Revolution. Aber Cohn-Bendit hat uns neulich auch einen Satz reingedrückt, der mich beschäftigt. Vermutlich weil er so Pop ist, dass er aus einem alten Song von C,S & N sein könnte. Der Satz lautet: „Entweder du bestimmst mit, oder die anderen bestimmen über dich.“

Manchmal denke ich, dieses Land ahnt noch gar nicht, wie wenig bleibt, wenn die 68er weg sind. Manchmal denke ich, ich werde alt.

Fragen an den Altrocker? kolumne@web.de Morgen: Bernhard Pötter über KINDER