Ein Riss, ein Loch, ein Fleck

MODE In ihrem Veränderungsatelier „Bis es mir vom Leibe fällt“ haucht Modemacherin Elisabeth Prantner gebrauchten Kleidern neues Leben ein. So will sie die den Kreislauf der Wegwerfwirtschaft unterbrechen

Die Idealistin Prantner will den Kunden die Definitionsmacht zurückgeben

VON CATARINA VON WEDEMEYER

„Bis es mir vom Leibe fällt“ – das seltsame Motto an der weinlaubbewachsenen Hauswand in Berlin-Mitte lässt stutzen. Vor dem kleinen Laden in den Hackeschen Höfen rauscht ein Brunnen, drinnen summen zahm die Nähmaschinen. Ein Radio untermalt die Werkstattatmosphäre, überall liegen Stoffschnüre in allen Farben, Kleiderbügel, Knöpfe und Klamotten: ein Kleid aus einer ehemaligen Herrenhose. Eine Handtasche aus einem Strickpullover. Manschetten aus chinesischen Fächern. Wem sind diese Kunstwerke denn vom Leib gefallen?

Zwei Schneiderinnen beraten gerade eine Kundin, da betritt eine große Frau den Raum. Es ist die Besitzerin Elisabeth Prantner. Gehüllt ist sie in ein schräg geknöpftes rotkariertes Kleid, selbstverständlich selbst genäht. „Das ist unser Veränderungsatelier“, erklärt die Modedesignerin der Besucherin. „Wir reparieren die Kleidungsstücke nicht nur, sondern erneuern, vereinzigartigen und küssen die Stoffe wieder wach.“ Prantner war zunächst Kunsterzieherin und Performancekünstlerin und arbeitete am Wiener Burgtheater, bevor sie ihr Berliner Modelabel „Lisa D“ gründete.

Praktischerweise ist das Veränderungsatelier „Bis es mir vom Leibe fällt“ nur einen Hof weiter von der Boutique Lisa D in den Hackeschen Höfen untergebracht. „Der Let’s-make-it-Geist ist hier am stärksten“, begründet Prantner ihre Entscheidung für Berlin. Auch genäht wird in den Läden selbst. Dahinter steckt das politische Bewusstsein der Künstlerin: „Wir produzieren absichtlich vor Ort und verwenden auch für die Kollektion von Lisa D ökologische und fair gehandelte Stoffe“, erklärt die 56-Jährige.

Auch mit Labels wie Global Concern“ oder „Boat People“ kritisiert Prantner die Konsumpolitik, Billiglöhne und ungerechte Arbeitsbedingungen in outgesourcten Produktionen. Boat People beispielsweise richtete sich auf symbolischer Ebene gegen den verschwenderischen Umgang mit Stoffen bei H&M. In dem Projekt wurden die Kunden dann allerdings aufgefordert, billig produzierte Babykleidung zu kaufen und sich daraus Haute Couture „zu garantiert unfairen Preisen“ schneidern zu lassen. Das kleine Schwarze aus der Kollektion von Global Concern wirkt gewagt und stylish, den Schock bringt erst der zweite Blick: was aussieht wie ein schattiges Muster, ist die Silhouette eines unterernährten Kindes. Ein anderes Kleid besteht komplett aus roten und weißen Placebo-Pillen, die abstrakten Striche auf einem dritten sind aufgenähte Krakeleien eines vierjährigen Kindes. Solche Politperformances reichten der Österreicherin aber nicht: „Im Kunstkontext konnte ich nichts bewirken, die Leute applaudieren zwar, aber dann passiert wieder nichts.“ Also musste ein anderes Projekt her, um „die Menschen konkret zum Denken und Handeln zu bewegen“. Seit Juni 2011 gibt es nun „Bis es mir vom Leibe fällt“. Hier besprechen die Schneiderinnen gemeinsam mit den Kunden, wie alte, gebrauchte oder mottenzerfressene Lieblingsstücke wirkungsvoll und nachhaltig verwertet werden können, damit der Kunde sie wieder genussvoll tragen kann.

„Dabei wollen wir aber nicht abheben, sondern die Leute mitnehmen“, erklärt Prantner. Manche Kunden haben selbst Gestaltungsideen. Eine Auftraggeberin wollte unbedingt, dass die Änderungsschneiderinnen aus einem Pullover, „der ein einziges Loch“ war, ein „Schneegestöber“ machen. Andere vertrauen dem Geschmack der Schneiderinnen. „Die schmeißen uns die Sachen auf den Tresen und sagen: macht’s, was wollt’s“, erzählt Prantner. Ausgehend von irgendeinem Makel – ein Riss, ein Loch oder ein Fleck – müssen Kathrin Dilßner, Esther Kaya Stögerer und Judith Veith dann kreativ werden und den Kleidungsstücken „designerisch neues Leben einhauchen“ oder sie „wachküssen“, so beschreiben die Näherinnen ihre Arbeit auf der Homepage.

Auf spielerische Art und Weise will die Idealistin Prantner den Kunden „die Definitionsmacht zurückgeben, sie sollen mehr selbst entscheiden und sich nicht von den Konzernen terrorisieren lassen“. Schwarze Zahlen kann die Besitzerin damit aber noch nicht schreiben, auch wenn sie die künstlerischen und politischen Aspekte mit Dienstleistung kombiniert. Prantner finanziert das Veränderungsatelier vor allem über ihr Label Lisa D, sonst wären die Mietpreise in Berlin-Mitte unbezahlbar. Dazu kommt die Zeit, die die Schneiderinnen den Kunden widmen: „Wenn wir die Beratungen abrechnen würden, könnte sich das niemand mehr leisten“, bilanziert die Designerin.

Dies ist wohl auch der Grund, warum Schneiderinnen in ärmeren Gegenden – sei es Mecklenburg-Vorpommern oder Griechenland – das Konzept nicht übernehmen. Dabei wären die Menschen gerade dort darauf angewiesen, ihre Kleidungsstücke wiederzuverwerten. Unternehmungslustig ballt Prantner die Fäuste: „Es müsste eine Miniwirtschaft aus lauter Reparaturgeschäften entstehen.“ So könnten lokale Gegenkonzepte zu der allgemeinen Konsumpolitik entstehen.

Ohne moralisch sein zu wollen oder zu belehren, versucht die gebürtige Klagenfurterin, ihre Kunden mit „Bis es mir vom Leibe fällt“ zu politisieren. Allein dadurch, dass sie sich entscheiden, ihre vermeintlich ausgetragenen Klamotten zu reparieren, beziehen die Auftraggeber mehr oder weniger bewusst auch Stellung gegen die geplante Obsolenz. Das Fremdwort bezeichnet das absichtlich herbeigeführte verfrühte Verfallsdatum von Kleidungsstücken. Statt den gigantischen Kreislauf von Baumwolle um den Globus weiter anzuheizen, will die Designerin mit besseren Stoffen arbeiten und die „irrsinnige“ Wegwerfwirtschaft ausbremsen.

Wenn sie die Konsequenzen der aktuellen Konsumpolitik erklärt – Billiglohnarbeiter in Asien, Baumwoll-Monokulturen in Amerika, die Übermacht der großen Konzerne –, fängt Prantner an zu gestikulieren, und dann wird’s essenziell: „Das wirkt sich auch auf die Persönlichkeit aus. Wenn wir diesen Kreislauf nicht aushebeln, verlieren wir unsere Individualität.“ Mit dem Veränderungsatelier will die Künstlerin zur Entschleunigung der Wirtschaft und der Gesellschaft beitragen, es geht ihr aber auch ganz konkret darum, dass ihre Kunden einen langsameren Gang einschalten dürfen. Sie vergleicht das Konzept mit der Idee des Slow Food. Tatsächlich nutzen vor allem Berliner das Atelier und bleiben dann stundenlang auch zum Reden und um das lokale Flair und die fast dörfliche Idylle zu genießen. Vor der Schneiderwerkstatt stehen Gartenstühle, an den Hauswänden wächst der Wein, die Sonne scheint. Zwei Passantinnen lesen sich gegenseitig den Namen des Ladens vor und lachen. So fängt alles an.