Türken zu Unrecht ausgebürgert

Ein Rechtsgutachten mehrerer Anwälte in NRW erklärt die Ausbürgerung von Deutschtürken für ungültig. Die Betroffenen seien über ihre Wiedereinbürgerung in der Türkei nicht informiert worden

VON NATALIE WIESMANN

Die Ausbürgerung hunderter Deutschtürken in Nordrhein-Westfalen hat nach Ansicht einiger Rechtsanwälte juristisch keinen Bestand. Denn die Betroffenen hätten oftmals nicht gewusst, dass sie in Besitz eines zweiten, nach deutschem Recht verbotenen Passes seien. Nach türkischem Recht hätten sie über ihre Wiedereinbürgerung in der Türkei persönlich informiert werden müssen, sagt Mustafa Arslan, Rechtsanwalt aus Essen. „Das ist in allen Fällen, die uns bekannt sind, nicht erfolgt.“ Mit seinem Kollegen Oliver Frank Schulz und der Münsteraner Rechtsanwältin Jutta Bartels hat er jetzt ein Rechtsgutachten erstellt und an den Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) adressiert. Ein Sprecherin von NRW-Innenminister Ingo Wolf (FDP) sagt gestern der taz, die Expertise enthalte offenbar wichtige Informationen. Sie liege in Düsseldorf aber nicht vor. Zudem glaube sie nicht, dass bereits vollzogene Ausbürgerungen rückgängig gemacht werden könnten.

Das Staatsangehörigkeitsrecht von 2000 verbietet im Regelfall die doppelte Staatsbürgerschaft. Viele Türken hatten daher ihren ursprünglichen Pass abgegeben, um den deutschen zu bekommen. Anschließend hatten sie zusätzlich wieder die türkische Staatsbürgerschaft beantragt, denn die Türkei gestattet ihren Bürgern zwei Pässe verschiedener Nationalitäten. Nach deutschem Recht aber verliert automatisch seine Staatsangehörigkeit, wer eine andere annimmt – auch wenn die Behörden davon nichts wissen.

Erst nachdem Anfang dieses Jahres ein Vertreter der türkischen Regierung die Zahl von etwa 50.000 „illegalen“ Doppelstaatlern lanciert hatte, ging vor allem in NRW die Angst um. Um eine Anfechtung der Landtagswahl zu verhindern, befragten die Meldebehörden per Brief alle nach 2000 eingebürgerten Türken, ob sie noch einen zweiten Pass besäßen. Wenn ja, seien sie nicht mehr Deutsche und fielen aus dem Wahlregister.

„Wir hatten einen Riesenansturm auf unsere Kanzlei“, sagt Arslan. Die Adressaten der Briefe seien panisch gewesen und hätten alle eines gemeinsam gehabt: „Sie haben nicht gewusst, ob sie türkische Staatsbürger sind“. Das bestätigt auch seine Münsteraner Kollegin Jutta Bartels. „Ich habe denen geraten, sie sollen nein ankreuzen und dann einfach nicht zur Wahl gehen“, sagt sie. In ihrer Unwissenheit hätten aber viele der Betroffenen selbst in den türkischen Melderegistern recherchiert und so erfahren, dass sie tatsächlich dort als wiedereingebürgert registriert waren, weiß Arslan. „Viele sind zu ihrem eigenen Unglück mit diesem Auszug zu den deutschen Behörden und haben so den deutschen Pass verloren.“

Bei seiner Recherche sei ihm zudem aufgefallen, dass auf sämtlichen Internetseiten der türkischen Botschaften weltweit darauf hingewiesen wird, dass für eine Wiedereinbürgerung die Person selbst davon in Kenntnis gesetzt werden müsse – nur nicht auf der Seite des Generalkonsulats in Berlin. Die Betroffenen selbst seien unschuldig, sagt Arslan. „Deutschland und die Türkei betreiben ihre Politik über die Köpfe von Menschen hinweg, die Deutschland mit aufgebaut haben.“

In ihrem Gutachten kommen die AnwältInnen zu dem Schluss, dass „der tatsächliche Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit nach dem geltenden türkischen Staatsangehörigkeitsgesetz mangels Zustellung und Kenntnisnahme nicht erfolgt sei, so dass der betreffende Personenkreis weiterhin ausschließlich die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.“ Demnach wären hunderte von Ausbürgerungen in NRW wieder rückgängig zu machen. Auch eine entsprechende Ausbürgerungswelle vor der Bundestagswahl könne so verhindert werden, sagt Arslan.

Außerdem müsse in Deutschland „ernsthaft“ über das Thema doppelte Staatsbürgerschaft noch einmal diskutiert werden, sagt seine Kollegin Jutta Bartels. Es gibt eine Menge von Kindern in binationalen Ehen mit zwei Pässen. Die doppelte Staatsangehörigkeit hätte weder bei ihnen noch bei anderen Besitzern eines Doppelpasses zu Loyalitätskonflikten geführt. „Warum machen dann die Politiker so ein Theater darum?“