Wo sitzt die dicke Katze? Was frisst der Hase?

Aus der Not ein Projekt machen: Weil im Wedding viele Kinder ohne Deutschkenntnisse zur Schule kommen, bringen Teenager den Kleinen nun Deutsch bei – und entwickeln dabei Perspektiven, die Hoffnung machen

„Die ersten Schuljahre waren Horror. Du denkst, vor dir ist ’ne Wand“ „Es ist eben toll, wenn man erlebt, dass Dinge auch mal besser werden“

VON WALTRAUD SCHWAB

Die Idee liegt auf der Hand: Eine Große unterstützt einen Kleinen. Oder der 18-jährige Hüseyen Sakarya den acht Jahre alten Mohammed. Der kam 2003, sechsjährig, pünktlich zur Einschulung nach Berlin. Weil er jedoch kein Deutsch konnte, wurde er zurückgestellt. Mehr Intervention von offizieller Seite war nicht vorgesehen. Ein Jahr später sprach Mohammed noch immer kein Deutsch und durfte wieder nicht in die Schule. So werden in Berlin Weichen gestellt für die Karriere eines Versagers.

Den zehn Jahre älteren Sakarya durchzuckt es bei dem Gedanken, was Mohammed erwartet: dass einer in die erste Klasse kommt und kein Wort versteht. Wie er selbst vor zehn Jahren. Obwohl er in Berlin geboren wurde, sprach man bei ihm zu Hause nur Türkisch. Seine Mutter konnte kein Deutsch, und im Kindergarten war Sakarya auch nie. „Die ersten beiden Schuljahre waren Horror. Du sitzt da und hast das Gefühl, vor dir ist ’ne Wand. So hab ich nicht Schreiben und Lesen gelernt.“ Erst als sein Vater, der ein Malergeschäft hat und perfekt berlinert, verstanden hat, dass was schief läuft, wird es besser. Er fängt an, mit seinen Kindern und seiner Frau Deutsch zu sprechen.

Sakarya und Mohammed leben im Wedding. Genauer: zwischen Pankstraße und Osloer Straße. Es ist das Viertel in Berlin, das mit Vorliebe schlecht geredet wird. Die Kaufkraft der Bevölkerung ist niedrig. Arbeitslos oder auf Hartz IV ist hier fast die Hälfte. Viele Kiezbewohner haben Migrantenstatus, und nahezu 50 Prozent der männlichen Hauptschüler verlassen die Schule ohne Abschluss. Die Chancen dieser Kinder, in der Gesellschaft Fuß zu fassen, sind gering. Umgekehrt nehmen sie sich wiederum nicht als Mitglieder eines Gemeinwesens wahr, dem sie verantwortlich sind. Telefonzellen oder Straßenlampen kaputtmachen – so was ist immer drin.

Einige Projekte im Kiez stemmen sich mit aller Macht gegen diese Art Zukunftslosigkeit. Wie das Frisbee, ein Jugendzentrum in der Koloniestraße. Dort fällt Hüseyen Sakarya, bei dem noch einmal alles gut ausgegangen ist und der nun an einem Oberstufenzentrum ist, 2004 eine Anzeige nach dem Motto „Große helfen Kleinen“ auf. Sie bringen ihnen Deutsch bei. „Ich dachte, die meinen Nachhilfe“, sagt Sakarya und meldet sich. Dass er am Ende in eine Familie geschickt wird und einem Kind, das nur Türkisch kann, Deutsch beibringen soll, das konnte er sich zu dem Zeitpunkt nicht vorstellen.

„Sprachstube“ nennt sich das Tandemprojekt, das sich Jeanne Grabner, eine Pädagogin im Frisbee, ausgedacht hat. Derzeit betreuen 12 Große 20 Kleine zwischen zwei und acht Jahren in 14 verschiedenen Familien. Einmal in der Woche besuchen sie sie. Dafür bekommen sie 5 Euro. „Eine winzige Anerkennung“, sagt die Verantwortliche aus dem Frisbee. Vor dem Besuch bereitet das Sprachförderteam die Treffen vor. Von Grabner, die Deutsch als Fremdsprache studiert hat, und von Rowena Schottenloher, die ein Diplom in Psycholinguistik hat, bekommen die Sprachhelfer und -helferinnen einen Plan, welche Hör- und Spielübungen sie mit den Kindern machen sollen. Außerdem werden die ganzen Probleme besprochen, die während der Familienbesuche auftauchen: dass die Kleinen nicht still sitzen können; dass sie noch nie eine Schere in der Hand hatten; dass die Familie kein Papier im Haus hat, wohl aber eine neue Stereoanlage.

Erst auf den zweiten Blick zeigt sich, was in dieser Kooperation zwischen Groß und Klein alles steckt. Sakarya nimmt sein Fahrrad und fährt zu den Erguns in die Pankstraße. Dort wartet nicht nur Mohammed, auch seine Eltern samt kleiner Schwester sind da. Der Tisch ist reich gedeckt. „Essen gibt es immer“, erklärt der 18-Jährige, während er von Mohammed stürmisch begrüßt wird. „Er ist mein Freund“, meint der Kleine. Dank Sakarya schafft er es, jetzt mal zehn Minuten auf einem Fleck sitzen zu bleiben; dank Sakarya ist er jetzt in der Vorschule, wohin er seit ein paar Monaten geht, nicht mehr der ewige Verlierer; dank Sakarya ist er in einem Fußballklub. Wie war’s am Samstag? „Dann haben wir verloren. Aber ich nicht mitgespielt habe.“ Warum hast du nicht mitgespielt? „Ich weiß nicht.“

Sakarya, Mohammed und dessen Eltern sitzen um den Couchtisch. Im Hintergrund läuft der Fernseher ohne Ton. Catchen – das ist Mohammeds Lieblingssendung. Die vier einigen sich darauf, dass das Gerät ausgeschaltet wird. „Was habt ihr heute in der Vorschule gemacht?“, will Sakrya wissen. „Ich hab ein Huhn geklebt, gespielt.“ Der Vater mischt sich ein. Es geht ihm zu langsam mit den Fortschritten des Sohnes. Außerdem wird die Schule, auf die Mohammed ab Herbst gehen soll, mehrheitlich von nichtdeutschen Kindern besucht. Deshalb fürchtet er noch weitere Nachteile für sein Kind. Sakarya kann nicht helfen. Obwohl er nur Mohammeds Ansprechpartner ist, erhoffen sich die Eltern von ihm Zuspruch. Aber was kann er machen bei so vielen Problemen? Frau Ergun, die mit Mohammed in Erzurum lebte, bis er sechs Jahre alt war, ist Analphabetin und spricht auch kein Deutsch. Ihr Mann, Mohammeds Vater, ist arbeitslos, obwohl er vor zwanzig Jahren zum Ingenieurstudium nach Berlin kam. Jetzt sucht er eine Stelle als Hausmeister. Vergeblich.

Sakarya konzentriert sich auf den Kleinen. „Bruder Jakob“ wird gesungen, dann geht er mit ihm die Arbeitsblätter durch. „Ich gehe in das Haus und sehe eine alte kadin“, liest er vor. Der Junge muss das türkische Wort im Text durch das deutsche ersetzen. „Frau“, ruft Mohammed. „Ich sehe eine alte Frau.“ „Frau“, wiederholt Mohammeds Mutter, die die kleine Tochter im Arm wiegt.

So geht das eine Stunde weiter. Nach den Texten mit den türkischen Wörtern zieht Sakarya kleine Percussionsinstrumente aus der Tasche: ein Klangholz, eine Triangel, eine Ratsche. Er zeigt sie dem Kleinen, lässt ihn damit spielen, versucht, mit ihm Wörter zu finden für die unterschiedlichen Töne: „hoch“ – die Triangel, „tief“ – das Klangholz, „wenn man so mit Stock die Straße entlangkratzt“ – die Ratsche. Dann verbindet Sakarya seinem Zögling die Augen, schlägt die einzelnen Instrumente an und lässt den Kleinen raten, was er hört.

Ein Jahr arbeitet Hüseyen Sakarya schon mit Mohammed. Nach zwei Monaten wollte er ursprünglich das Handtuch werfen. Mohammed war zu schwierig. „Wie ein eingesperrtes Tier.“ Erst seit er sich ausdrücken kann, wird es besser. Der Kleine ist begabt, hat – im Gegensatz zu seinem Mentor – keinen Akzent und spricht Sätze mitunter richtiger als Sakarya, der eher zur „Kanak-Sprak“, dem Berliner Straßenslang, neigt, bei dem Präpositionen und Artikel nicht notwendig sind. Deshalb haben die Leiterinnen der Sprachstube, die die Jugendlichen einmal im Monat in die Familien begleiten, entschieden, dass Sakarya den Jungen nun abgeben soll. Seine Aufgabe war es, für Mohammed die Tür zu öffnen. Und für sich selbst auch. Nun verstehe er besser, was es heißt, Verantwortung zu tragen.

Anderen geht es genauso. Ein Gewinn, den sie aus dem Projekt ziehen: Sie können ihre Meinung nicht nur sagen, sondern sie auch einbringen. „Es ist leicht, gegen was zu sein“, sagt Sandra Uelpenich, „aber gar nicht so einfach, was dagegen zu machen.“ Sie ist die Einzige aus dem Team der SprachförderInnen, die nicht zweisprachig aufgewachsen ist. Die Abiturientin sah eine Anzeige beim Gemüsehändler in der Koloniestraße und meldete sich. „Ich wollte unbedingt mitmachen.“ Sie hat früher andere Sprachtandems in Polen kennen gelernt, wo einem Deutschlehrer jugendliche, deutsche MuttersprachlerInnen beigestellt wurde. Sie war mal eine von ihnen.

Seit Dezember ist sie jetzt beim Programm im Frisbee dabei. Bis sie einen Studienplatz bekommt, macht sie dies sogar auf Basis eines 1-Euro-Jobs. Sie hält derzeit die Stellung in den Ferien und unterrichtet zehn Kinder. Der vierjährige Șefer ist einer von ihnen.

„Hallo, Șefer“, begrüßt ihn Sandra Uelpenich. „Hol mal das Buch. Schlag es auf.“ Er macht’s. „Was ist das?“ „Ente“, antwortet der Kleine. „Lass uns ‚Alle meine Entchen‘ singen.“ Șefer und seine 23-jährige Mutter, die in einem Mütterkurs ebenfalls Deutsch lernt, bald aber ihr zweites Kind bekommt, stimmen ein. Eine Stunde lang arbeiten sich die drei durch Bilderbücher, üben die Namen der Tiere, antworten auf Fragen wie „Was frisst der Hase?“, „Wo ist das große Schwein?“, „Wie viele Kühe sind das?“ oder „Wer ist dran?“. Denn Memory wird auch noch gespielt. Șefer gewinnt. Als der Kleine neuen Input braucht, zeichnet Uelpenich seine Körperumrisse auf einem großen Blatt Papier ab. Kopf, Hände, Bauch, Füße – alles bekommt einen Namen. „Was fehlt im Gesicht?“ „Die Augen:“ Șefer malt sie und auch Nase und Mund.

Ursprünglich wollte Sandra Uelpenich, die seit fünf Jahren im Wedding lebt, Fotografin werden. Die Arbeit hat ihr den Kick gegeben, es doch lieber mit der Pädagogik zu versuchen. „Weil es toll ist, wenn man erlebt, dass Dinge auch besser werden.“ Zwei Monate unterrichtet sie Șefer nun und sieht nichts als Fortschritte. Freude sogar. Auch bei Șefers Mutter.

Die anderen Jugendlichen im Team sind ebenso davon begeistert, dass sie etwas in Bewegung setzen können. Sie haben ihren Wunsch, ein paar Euros Taschengeld zu verdienen, mit den Erfahrungen gepaart, die sie als Jugendliche ohne vernünftige Sprachkenntnisse gemacht haben. „Wir leben in Berlin. Da kann man sich doch nicht ewig ausklinken“, sagt Suzan Aral. Die Abiturientin unterrichtet nicht nur Vorschulkinder, sondern in einem Ableger des Projekts, der sich Sprachclub nennt, zudem drei pakistanische Teenager. Hier wird nicht nur gespielt, sondern auch geschrieben und gelesen. Aral wirkt wie eine strenge Lehrerin, die viel verbessert und selten lobt. „Die Sprache ist die Waffe. Wenn man sie nicht beherrscht, beherrschen einen die anderen.“