In besserer Gesellschaft

Die Niederländer betrachteten sich lange als multiethnisch, die Briten sich einfach als britisch. Eine Analyse der beiden Gesellschaften angesichts der terroristischen Bedrohung zeigt: Beide irrten

VON NATALIE TENBERG

Der Mord an Theo van Gogh mischte vergangenen November Selbstzweifel in einen Konsens der niederländischen Gesellschaft. Letzte Woche explodierten vier Bomben in der Londoner Innenstadt, und die britische Bevölkerung erwiderte mit Verve: „Wir machen weiter!“ Die unterschiedlichen Reaktionen auf die Bedrohung lädt dazu ein, die Gesellschaften dieser beiden Länder eingehender zu betrachten.

In beiden Nationen gibt es immer wieder Spaltungen zwischen Minderheiten und dem Mainstream, nur gehen beide Gesellschaften auf andere Weise damit um. Auf der einen Seite des Kanals steht die Konsensgesellschaft, auf der anderen eine monarchische und standesbewusste – die erste ist die britische, das zweite die niederländische.

Das überrascht, erscheint doch gerade die britische Klassengesellschaft wegen ihrer offensichtlichen Einteilung als ein System der Hierarchien. Aber anders als in den Niederlanden bietet in England auch das „Unten“ eine eigene, sozial akzeptierte Identifikationsoberfläche. Die Unterschicht hat ihren eigenen Dresscode, eine eigene Sprache und ein eigenes Wertesystem. Sie strebt zwar in der Regel nach mehr Geld, besseren Lebensumständen, aber eben nicht danach, in die „High Society“ aufgenommen zu werden. Diese nimmt viel mehr Impulse aus der Kultur des Proletariats auf, um sie in ihre eigene zu integrieren – ein Mechanismus, der spätestens mit dem Ritterschlag für vier Musikanten aus dem proletarischen Liverpool höhere Weihen erfahren hat. Hinter dem scheinbar rigiden System steht eine Gesellschaft, die offen ist, Unterschiede anzuerkennen und sie, wenn schon nicht als etwas Eigenes, so doch als „das Andere“ nebenher laufen zu lassen. Leben und leben lassen.

Wie anders ist das Bild in den Niederlanden. Die scheinbar offene Gesellschaft ist von Widersprüchen zerrüttet. Während soziale Unbeherrschtheit – wie beispielsweise Trunkenheit – in Großbritannien teilweise akzeptiert wird, sind die Niederländer strenger, ohne stringenter zu sein, will heißen: Die Sau wird eben nicht vor der eigenen Haustür rausgelassen, aber gleichwohl dort, wo man sie nicht kennt. Man darf sehr wenig, sich vor allem aber nicht bei prolligem Verhalten erwischen lassen! Die Normen einer restriktiven Gesellschaft werden von den Anzeichen einer liberalen Gesellschaft überdeckt. Es erfordert schon ein gewisses Maß an Kultiviertheit und sozialer Sensibilität, auf die latenten Restriktionen überhaupt aufmerksam zu werden. Wer die Normen nicht erfüllt, dem ist die gesellschaftliche Partizipation nicht vergönnt, er krebst im Bodensatz der Gesellschaft herum.

Auch die multiethnische Zusammensetzung der Gesellschaften könnte unterschiedlicher nicht sein: In Großbritannien kann heute ein Immigrant zur Säule der Gesellschaft werden. in den Niederlanden bleibt dies Zugezogenen in der Regel verwehrt – ein Konflikt, der offen höchstens in der niederländischen Nationalmannschaft ausgetragen wird.

Während Großbritannien ein Land der expliziten Verbote und impliziten Einschränkungen dieser Verbote ist (und damit ein leicht zu durchschauendes Normenkonstrukt vorweist), sind die Niederlande ein Ort des expliziten Liberalismus und der impliziten Verbote – schwierig für Unbedarfte oder eben auch Ausländer, die aus Kulturen stammen, denen solche Differenzierungen fremd sind.

Die Unterschiede zwischen der britischen und der niederländischen Gesellschaft zeigen aber auch, dass eine traditionsbehaftete Gesellschaft, die ihre Regeln offen zur Schau stellt, für ihre Bürger leichter zu handhaben ist als eine scheinbar liberale Gesellschaft, die ihre Beschränkungen beschämt hinter lapidaren und ironischen Aussagen versteckt.

Während in Großbritannien ein Bewusstsein darüber herrscht, dass das multiethnische Konstrukt der Gesellschaft durchaus Konflikte bergen kann, denen man sich zu stellen hat, waren die Niederlande von der ihnen plötzlich entgegenschlagenden Unzufriedenheit mit den Lebensumständen in ihrem Land bass erstaunt. Das ist vielleicht der wichtigste Unterschied zwischen den Modellen – die größere Bereitschaft der Briten, einen Missstand als eigenen zu erkennen, statt ihn als Problem einer Randgruppe abzutun.

Die Reaktion der Briten auf die Anschläge vom 7. Juli und der Niederländer auf die Ermordung Theo van Goghs sind zwar völlig verschiedene Sachverhalte, lassen aber einen Rückschluss zu: Die Briten sind nicht überrascht, die Niederländer schon. Die einen haben hingeschaut, die anderen nicht.