MICHAEL BRAKE ÜBER NULLEN UND EINSENHIPPIEHAFTE HAPPINESS AUF ZUCKERWATTESPEED: WIE DAS EINST SO HASSFREUDIGE INTERNET VERWEICHLICHT
: Der große Flauschangriff

Nicht gemeckert ist genug gelobt. Diese robuste Grundeinstellung der Niedersachsen, Berliner und Ostwestfalen gilt auch in weiten Teilen des Internets. Während es zahlreiche klar definierte Hassausdrucksformen gibt – den Rant, den Shitstorm, den Flame-War, die Trollerei – wird Respekt oder gar Zuneigung normalerweise nur technisch ausgedrückt: durch das Betätigen der Like-, Fav- und +1-Buttons, durch die Trackback-Funktion oder Verlinkungen. Meist aber gar nicht.

Seit rund einem halben Jahr aber etabliert sich aber eine Gegentechnik: der Flausch. Flauschen kann tröstend sein, eine Zuneigungsbekundung, hippiehafte Happiness auf Zuckerwattespeed und noch vieles mehr. Speziell auf Twitter wird mit dem Hashtag #flausch viel Liebe in die Welt geblasen.

Im Internet groß gemacht hat den Begriff möglicherweise „Bildblog“-Gründer Stefan Niggemeier, der in seinem privaten Blog schon seit Mitte 2009 die Rubrik „Flausch am Sonntag“ unterhält – dessen Flauschcontent sich aber tatsächlich auf pelzige oder wollige Tiere bezieht und nicht auf Kulturtechniken. Mindestens so lange steht „flauschen“ auch schon im Szenesprachenwiki des Online-Duden. Kurz vor Weihnachten 2011 rief dann jedenfalls der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch auf Google+ zu einem Flauschstorm für die drei Monate nach ihrem Wahlerfolg dezent unter Stress stehende Berliner Piraten-Landtagsfraktion auf.

Überhaupt kämpft die Piratenpartei an vorderster Flauschfront. Was einigermaßen logisch ist, denn deren Streitkultur ist Internet in siebenfacher Intensität und ein Piratenparteiamt auszuüben kein My-Little-Pony-Hof – deswegen gibt es eine AG Flausch (okay, es gibt auch eine AG Jagd), die unter dem Motto „Harmonie und yeah“ den inneren Parteifrieden aufrechterhalten möchte und dafür unter anderem Bällebäder für Parteitage organisiert.

Und so ging es weiter. Eine „sorgenkritische Flauscheria“ twittert Wärmendes wie „Mein Flausch für euch ist ganz geschlechtsneutral für ALLE da <3.“ Nach der Saarlandwahl im März schickte Piratensprecher Thomas Brück in einer ARD-Runde seiner erkrankten Spitzenkandidatin „einen herzlichen Flausch“ – was einen massiven Flausch-Ausschlag beim Analyse-Tool Google Trends zur Folge hatte. Und Sascha Lobo stellte bei einem Vortrag auf der Netzkonferenz re:publica Anfang Mai fest, dass seit 2011 im Internet nur noch „auf Nachfrage beleidigt wird“, und schenkte seinem Publikum einen Startflausch.

Doch während die einen sich noch an sich selbst beflauschen, hat anderswo längst eine Flauschdiskussion begonnen. „Leide unter Angoraphobie – der Angst vor Flausch“ twittert „Löschkopf“. Flausch wird aufgrund inflationärer Nutzung als hohle Pose kritisiert. Oder als „Schmerztablette“ bezeichnet, die Probleme in Watte packt, anstatt sie zu lösen. Das Antiblog hält dagegen: „Kleine Flauschpflaster in Form von Aufmerksamkeitssekunden helfen oft schon weiter“. Und so weiter.

Wo die Debatte hinsteuert, ist völlig offen: Nicht geflauscht ist genug gemeckert? Oder doch: Nie wieder Flauschwitz!?