heute in hamburg
: „Es gibt viele tiefsitzende Mythen“

Online-Führung durch die Sonderausstellung „Grenzenlos. Kolonialismus, Industrie und Widerstand“, 16 Uhr, Museum der Arbeit, Anmeldung online: https://shmh.de/de/grenzenlos-digitale-fuehrung-13-7

Interview Simeon Laux

taz: Frau Schürmann, inwiefern hat Hamburg seine Kolonialgeschichte aufgearbeitet?

Sandra Schürmann: Die Kolonialgeschichte ist erst bruchstückhaft aufgearbeitet. Es gibt schon sehr lange antikoloniale Stadtrundgänge und immer wieder Leute aus der Zivilgesellschaft, die auf Straßenbenennungen nach Kolonialverbrechern hinweisen. Da mal richtig ernsthaft und ganz genau hinzuschauen, ist eine große Herausforderung. Es gibt Ansätze, es gibt aber auch viele alte, tief sitzende Mythen, die es zu überwinden gilt. Wir tendieren dazu, Wirtschafts- und Handelsgeschichte für unschuldiger zu halten als etwa Politikgeschichte.

Welche Industriezweige haben in der Vergangenheit besonders von kolonialen Strukturen profitiert?

Die Gummi-Industrie ist ein wichtiges Beispiel, das uns am Herzen liegt, weil unser Museum sich auf dem Gelände einer alten Gummifabrik befindet. Aber auch Bereiche der Industrie, die tropische Öle und Fette verarbeitet hat, haben profitiert. Und auch die Schokoladen­industrie sowie die Verarbeitung von Elfenbein zählen dazu.

Sind neokoloniale Strukturen für Hamburg heute noch von Vorteil?

Ja, klar, es gibt einige Industriezweige, die nach wie vor von der Ungleichheit zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden profitieren. Das ist nahezu jedes Unternehmen, das Rohstoffe verarbeitet, die aufgrund dieser Ungleichheit günstig sind.

Welche kolonialen Spuren sind bis heute in der Stadt sichtbar?

Foto: Udo Mölzer

Sandra Schürmann

48, ist Kuratorin der Sonderausstellung „Grenzenlos. Kolonialismus, Industrie und Widerstand“ im Museum der Arbeit.

Es wird immer wieder kritisiert, dass sich Hamburg nicht abgewöhnen kann, Straßen nach Kolonialverbrechern zu benennen. Die Hafencity ist dafür ein Beispiel. Es gibt aber auch historische Marker, an denen sich ein romantisierender Blick auf die koloniale Vergangenheit erkennen lässt, verbunden mit Bild- und Vorstellungswelten, die eine vermeintliche vergangene Herrlichkeit heraufbeschwören. Zum Beispiel das Afrikahaus, das Chilehaus, die Speicherstadt. Wir mögen die wohlklingenden Namen und finden es toll, wenn es nach Gewürzen oder Kaffee riecht, aber wir ignorieren die koloniale Ausbeutung dahinter.

Welche langfristigen Folgen haben die ­kolonialen Herrschaftsstrukturen in den ausgebeuteten Ländern?

Das fängt mit einer Wirtschaftsstruktur an, die diese Länder zu Rohstoffproduzenten degradiert hat. Der globale Süden kämpft noch heute mit den Folgen der Zerstörung von Ressourcen, von Gesellschaften, von Traditionen, mit den Folgen von Kriegen, Hungersnöten, Völkermorden. Diese Gewalterfahrungen haben Folgen bis in die Gegenwart. Dazu gehören auch Migrationsbewegungen und Probleme in der Zivilgesellschaft. Die Überwindung des Kolonialismus ist ein sehr langer Prozess, mit dem sich die Länder seit Jahrzehnten herumschlagen.