Sonntagmorgen mit Herrn Überlegend

Reise in eine Zeit, als das Zeitunglesen noch Meditation war: Eine Ausstellung in Lübeck würdigt drei Jahrzehnte lokaler Feuilleton-Geschichte

Von Friederike Grabitz

„Herr Überlegend geht auf die Promenade. Er sieht über den Strand, geht zu einem leeren Strandkorb, setzt sich hinein. Und er beobachtet das wenige Treiben um sich herum.“ Herr Überlegend, das ist ein Urlauber in der Nachsaison, der an einem nicht näher definierten Strand flaniert. Zuvor haben wir ihn eine Spalte lang bei seinen Morgen-Aktivitäten begleitet, davor hat er anderthalb prosaische Spalten lang über den Spätsommer philosophiert.

Der Artikel „Die Saison klingt aus…“ erschien 1963 auf der ersten Seite des Feuilletons der Lübecker Nachrichten, das damals „Sonntagmorgen“ hieß und betreut wurde von Kulturredakteur Günter Zschacke. Der war von 1963 bis 2018 bei den LN, eine Auswahl Artikel aus 30 Jahren wird derzeit in der Lübecker Jakobi-Kirche ausgestellt.

Die Ausstellung wirft ein Schlaglicht auf ein Stück Zeitungsgeschichte. Die frühen Texte scheinen aus einer anderen Welt zu kommen: Die Strecken sind lang und radikal subjektiv, die Themen assoziativ und durchzogen von philosophischen Anmerkungen. Aufgelockert werden die Texte durch Schwarz-Weiß-Fotos, Illustrationen oder Postkarten-Reproduktionen.

„Die Tageszeitung stillte nach dem Zweiten Weltkrieg den Hunger nach niveauvoller Unterhaltung“, heißt es im Begleittext, und die Vermittlung von bloßer Information war erkennbar nicht Aufgabe des Feuilletons. Zschacke schreibt etwa über die Entwicklung des modernen Tanzes oder – zu Fasching – den Konflikt zwischen schamhafter Hemmung und dem Wunsch nach Exzentrik. Genauso zählen Bauhaus-Design in Lübeck, frühe Comic­zeichner oder der Komponist Carl Maria von Weber zu seinen Themen. Einmal philosophiert er über Zäune als Ausdruck von Autorität. Am Ende seiner Assoziationskette bespricht er die Vor- und Nachteile antiautoriärer Erziehung – und erwähnt mit keinem Wort den Zaun, der 1971 in Lübeck am sichtbarsten war: die innerdeutsche Grenze.

Spätere Texte haben mehr aktuelle Bezüge. Da bricht Zschacke schon mal eine Lanze für eine starke staatliche Kulturförderung – bis heute ein Thema. 1973 setzte er sich für den Erhalt des städtischen Theaters ein, 1989 präsentierte er, nun mit Farbfotos, den frisch umgebauten Saal der Musikhochschule.

Beginnend in den 1980er-Jahren, verändert sich das Layout: Das aufgelockerte Schriftbild wird ergänzt durch – gerne auch lange – Dachzeilen, Zwischenüberschriften und Infokästen. Die Schreibe ist fokussierter, gleichzeitig bleiben die Beiträge ganzseitig, keine Anzeige bricht den Lesefluss.

Hermann Hofer war bis 1999 Feuilletonchef der LN und lange Zschackes Vorgesetzter. Er erzählt, wie sehr die Arbeitsdichte zugenommen habe – was auch die Texte präge. Zeit, Themen mit Muße zu entwickeln und zu besprechen, gebe es schon lange nicht mehr. „Jede technische Entwicklung hatte Auswirkungen auf alle Ressorts., so Hofer. Er habe noch „die Bleizeit erlebt, da machte die Setzerei das Layout.“ Dann kamen der Lichtsatz und das elektronische Zeitalter – „seitdem haben wir die Seite selber gemacht“.

Die letzten nun ausgestellten Ausgaben stammen von 1989 – auch sie sind inzwischen historisch. Der Stil ist heute sachlicher, orientiert sich mehr an Aktualität und Regionalität. Fast ganz verschwunden sind die teils literarischen Überschriften. Onlinetauglichkeit prägt auch die gedruckte Ausgabe, der Großteil des Publikums aber liest digital. Einen Urlauber 8.000 Zeichen lang beim Nichtstun zu begleiten, dafür nähmen sich wohl die wenigsten noch Zeit – nicht mal sonntagmorgens.

Sonntagmorgen oder Die große Zeit des Feuilletons: bis 30. 7., Lübeck, St. Jakobi