sexueller missbrauch
: Die Gesellschaft hat versagt

Hatun Sürücü wurde 23-jährig vermutlich von ihren Brüdern umgebracht. Der moderne Lebensstil der kurdischstämmigen Frau passte nicht in das Wertesystem der Brüder, das den Ehrenkodex einer bäuerlichen, ostanatolischen, orthodox islamischen Tradition widerspiegelt. Eine nicht unterwürfige Frau steht zu diesem Konzept in Widerspruch. Kein Widerspruch dazu scheint jedoch sexueller Missbrauch zu sein. Denn, was nunmehr zu vermuten ist: Sürücu wurde von einem ihrer Brüder als 15-Jährige vergewaltigt.

KOMMENTAR VON WALTRAUD SCHWAB

Die in Berlin geborene Sürücü hatte guten Grund, mit ihrer Familie zu brechen. Denn das rigide System, in das sie eingebunden werden sollte, basierte auf reiner Gewalt: Zwangsverheiratung in der Türkei mit 14, ein gewalttätiger Ehemann, geschwängert, vergewaltigt, verstoßen. Am Ende hingerichtet vermutlich zur Wiederherstellung einer auf fatalen Idealen basierenden familiären Ehre.

Was muss noch geschehen, damit begriffen wird: Das Private ist politisch. Gut, ihr Tod und die Lobbyarbeit einer Hand voll engagierter Frauen scheinen dazu beizutragen, dass Zwangsverheiratung bald ein Straftatbestand sein wird. Was aber tut die Gesellschaft, um Ehrenmorde in Zukunft zu verhindern? Was wird getan, um Frauen, die mit ähnlichen Schicksalen leben, ihre berechtigte Todesangst zu nehmen? Was ist mit gesicherten Erkenntnissen zu sexuellem Missbrauch im Migrantenmilieu?

Dass die Mehrheitsgesellschaft diese Fragen nach 40 Jahren Migrationsgeschichte kaum beachtet hat, ist ein Armutszeugnis. Forschungen und Hilfsangebote dazu sucht man vergebens. Bisher tragen einzelne Frauen und Frauenorganisationen die Last der Aufklärung. Die Mehrheitsgesellschaft muss dies endlich als ihre Aufgabe annehmen.