Überholen, ohne einzuholen

Der alte Ulbricht-Slogan scheint bei den Konzepten für die „Modellregion Ost“ wieder aktuell. Ein Vergleich der Wahlprogramme mit Blick auf Ostdeutschland

Bei der Union klafft eine Lücke zwischen hohem Anspruch und dürftigem Programm

DRESDEN taz ■ Im Osten wird die Wahl entschieden, hieß es schon im Hochwasserjahr 2002. Sollte man also dem Ossi, diesem unberechenbaren, extremismusverdächtigen Wesen, einige besondere Appetithappen als Köder in die Wahlkabine legen?

Alle Parteien bieten zunächst Allgemeinplätze und Selbstverständlichkeiten zum Thema Ostdeutschland. Dazu zählt die Bekräftigung des Solidarpaktes II oder der Stadtumbau Ost. Die beabsichtigte Fortschreibung der Investitionszulage, auf die die SPD besonders stolz ist, erwähnt die CDU nur wegen ihrer unsicheren EU-Kompatibilität nicht. Und seit Jahren kennt man Erklärungen zur Förderung der Hochtechnologie oder der Klein- und Mittelständler.

Das SPD-Wahlmanifest überrascht am wenigsten. Der Thüringer SPD-Landeschef Christoph Matschie lobte zwar, es habe „den Osten besser im Blick“. Doch die eine der 41 Programmseiten, die den neuen Ländern gewidmet ist, hinterlässt den Eindruck, als ginge die SPD der Aufholprozess Ost ab Herbst nicht mehr viel an. Neugierig kann man bestenfalls darauf werden, wie die Arbeitsvermittlung denn in Zukunft Klein- und Mittelständlern Hilfen zu betrieblichen Personalentwicklung geben will. Der Angleichungsprozess besteht bei der SPD im Wesentlichen aus der Erhöhung des Arbeitslosengelds II auf das Westniveau von 345 Euro. Der frühere Ostbeauftragte Rolf Schwanitz zeigte sich dennoch überzeugt, dass der Osten mit den herkömmlichen Instrumentarien noch vor Ablauf des Solidarpakts 2019 auf eigene Füße kommen wird.

Daran hat die CDU offenbar wachsende Zweifel. „Insoweit es an uns selbst liegt, ist das möglich“, sagt zwar der stellvertretende Bundestagsfraktionsvorsitzende Arnold Vaatz. Die bundesweiten Rahmenbedingungen, für die Rot-Grün verantwortlich sei, aber bremsten den Aufholprozess aus.

Auffällig an der Union ist die Diskrepanz zwischen den teils dramatischen verbalen Äußerungen ostdeutscher Exponenten und den eher dürftigen Passagen im Programm. Die sind allein schon im quantitativen Vergleich zu 2002 von sechs auf eineinhalb Seiten geschrumpft. „Wir wollen einen zweiten Schwung für den Aufbau Ost“, erklärten aber schon vor Wochen die Generalsekretäre von Brandenburg, Thüringen und Sachsen, Sven Pethke, Mike Mohring und Michael Kretschmer. Für die Menschen in den Neuen Bundesländern handele es sich um eine Schicksalswahl. Insbesondere Kretschmer konstatiert gegenüber der taz eine „große Hoffnungslosigkeit“ in der Bevölkerung. „Es geht nicht um mehr Geld, aber die bisherigen Instrumente haben sich als nicht tauglich erwiesen.“ Vorsichtige eigene Wahlprognosen lassen nicht nur weiteren Wählerschwund im Osten ahnen. Im Falle einer Regierungsübernahme könnte die Problemregion Ost der Union noch viel Ärger bereiten.

Das Heil in Form von Arbeitsplätzen soll, einem früheren Vorschlag von Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) folgend, von Lohnkostenzuschüssen kommen. Das meint nichts anderes als eine stärkere Lohnspreizung und eine Ausweitung des Niedriglohnsektors. Die verschiedensten Interpretationsmöglichkeiten quer durch die Parteien lässt der Begriff der „Modellregion Ost“ zu. Verfahrensbeschleunigung und Bürokratieabbau will auch die SPD. Bei der CDU kommt noch eine weitergehende Deregulierung des Arbeitsmarktes hinzu.

„Alles Augenwischerei, weil der Osten längst dereguliert ist“, kommentiert Ines Brock, die grüne Landesvorsitzende von Sachsen-Anhalt. Den Grünen kommt es eher auf Bildungs- und Forschungsregionen an. Sie haben nun doch ein Kapitelchen zu ostdeutschen Perspektiven in das ansonsten betont gesamtdeutsche Programm eingefügt. Wie die CDU wollen die Grünen Fördermittel zweckgebunden und vor allem für Wachstumsregionen einsetzen. Keinen Nachholbedarf sieht man hingegen mehr bei der Infrastruktur Ost.

Die PDS erinnert mit „Neues aus dem Osten“ ein bisschen an Ulbrichts Slogan vom „Überholen ohne Einzuholen“. Weiche Faktoren wie Kinderbetreuung, lange gemeinsame Schulzeit, Bildung und Forschung sollen dem Osten nicht nur den Anschluss ermöglichen, sondern auch Vorbildcharakter verleihen. Mit der Forderung nach größerer Mitsprache der Ossis auf allen Ebenen bleibt die PDS ganz Ostpartei– auch wenn sie jetzt mit der Linkspartei diese Ecke verlassen will. Erstaunlich gesamtdeutsch klingt es, wenn Roland Claus im internen Entwurf vom „Ende der Nachwendezeit“ spricht. Überall sollen gefährdete Regionen besonders gefördert werden, unter anderem in Grenznähe zu den neuen EU-Mitgliedern.

Die SPD erweckt den Eindruck, als ginge sie der Aufholprozess Ost nicht mehr viel an

Gespannt sein darf man speziell auf den Wahlkampf der sächsischen FDP, die mit ihrer sozialeren Ausrichtung auf Distanz zu den Westerwelles gegangen ist. Landesvorsitzender Holger Zastrow kündigte eine „klare sächsische Note“ an.

MICHAEL BARTSCH