Manieristisches Wuchern

VERWANDLUNG In seiner raumgreifenden Installation „Kniendes Fenster“ im Hamburger Kunstverein knüpft der Künstler Florian Baudrexel an Michelangelos Architektur der Umdeutung an

In der manieristischen Gedankenwelt kann sich immer alles in alles andere verwandeln

Jetzt hat Hamburg auch seinen „MERZ-Bau“ – so nannte Kurt Schwitters seine Versuche, mit Collagen ganze Räume zu füllen. Doch der Berliner Künstler Florian Baudrexel bezieht sich bei seiner voluminösen Installation im Erdgeschoss des Hamburger Kunstvereins weniger auf Schwitters als auf Michelangelo Buonarroti – den großen Vollender der Renaissance und kühnen Manieristen. Der nämlich liebte es, Architekturformen buchstäblich auf den Kopf zu stellen. Das Verselbständigen und Umdeuten von Details wurde ein Bau-Topos, der bis in den Barock wiederholt wurde.

Für eine Papp und Styropor-Intervention im tageslichtlosen Hamburger Ausstellungsraum scheint das alles ein bisschen weit hergeholt, doch Baudrexel nennt seine Arbeit ausdrücklich „Kneeling Window“ – und „Kniendes Fenster“ ist das Wort für genau so eine Umdeutungs-Figur von Michelangelo.

In der manieristischen Gedankenwelt kann sich immer alles in alles andere verwandeln: Die Architektur wird anthropomorph, das Detail zur Großform und die Großform soweit aufgelöst, dass sie zusammenzustürzen scheint. Auch wenn hier im Erdgeschoss des Kunstvereins kein als Ruine gebauter Gartenpalast entstanden ist, haben die Formen des Einbaus im frontalen Anblick eine gewisse Ähnlichkeit mit einem menschlichen Gesicht, durch dessen Mund man ein und ausgehen kann – wie in der manieristischen Gartenarchitektur.

Baudrexel hat den Raum geteilt: von der zentralen Säule bis in die Ecken wurde ein dreieckiger Bereich abgetrennt, dessen Wände im Inneren in erdrückender Formenvielfalt plastisch überwachsen sind. Überwiegend aus Pappe gebaut, durchdringen und addieren sich Bruchstücke geometrischer Formen und bilden ein Großrelief, das sich stellenweise zu einer konstruktivistischen Grotte auswächst. Diese Raumintervention lässt sich lesen als Architektur, als Skulptur oder sogar als Malerei – einige Pappen sind farbig.

Obwohl solche formale Mehrdeutigkeit in Material und Lesart gut zu Schwitters MERZ-Begriff passen würde, geht hier die Spur zu einem andern Merz: Gerhard Merz war einst der Lehrer von Florian Baudrexel an der Düsseldorfer Akademie. Und dieser Professor ist nun mal ein Künstler mit einem durch und durch architektonischen Kunstverständnis und einem Hang zu groß gebauten, mit historischen Referenzen gesättigten Kunsträumen.

Florian Baudrexels Bauten sind allerdings provisorischer, offener in der Deutung. Und so befindet sich im restlichen, weitgehend leer belassenen Raum noch ein Relief, dessen viele aufgereihte Elemente wie ein ohne genaue Vorgaben frei zu nutzendes Formenalphabet zu lesen sind: ein Modell-Setzkasten für mögliche Ornamente, Skulpturen und Architekturen – oder doch bloß für Verpackungsformen, die für industriell gefertigte Präzisionsinstrumente gedacht sein könnten. HAJO SCHIFF

Florian Baudrexel: Di – So, 12 – 18 Uhr, Hamburger Kunstverein, bis 2. September. Öffentliche Führung: jeden Donnerstag, 17 Uhr