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: Kunst muss wehtun

Ich bin jetzt gar nicht mal so megamords der Kunsttyp. Die Schließung der Galerien und Museen habe ich von daher nie besonders krumm genommen. Kunstgenuss ist für mich vielleicht am ehesten mit Wichsen vergleichbar – man macht es halt noch ab und zu aus reiner Gewohnheit, fast wie so eine Form von Pflichterfüllung gegenüber sich selbst, weiß aber im Grunde längst nicht mehr, warum. Das führt doch alles zu nichts.

Trotzdem gehen wir in die Ausstellung „Resonanz der Realitäten“ in das „Haus am Lützowplatz“. Kleines Zeitfenster, Onlinebuchung, winzige Besuchergruppen, FFP2-Maske und die aktuelle Bescheinigung eines negativen Schnelltests – ein fetter Aufwand dafür, dass ich wie so häufig nicht im Geringsten schnalle, worum es hier überhaupt geht: „Die digitalen Arbeiten resonieren im Ausstellungsraum in dazugehörigen ortsspezifischen Installationen. Durch die Gegenüberstellung von physischer und virtueller Welt erschließen sich die unterschiedlichen Rahmenbedingungen, die für die jeweiligen Orte gelten.“

Ich versteh kein Wort. Das ist leider mal wieder typisch. Doch auf der anderen Seite ist mir das Bewusstsein der eigenen Überforderung im Angesicht der Kunst vertraut. Kunst muss wehtun. Kunst sollte nicht einfach so schnöde wegkonsumiert, sondern über einen steinigen Pfad erstiegen, erarbeitet und zur Not auch erfiebert werden. Gerade für Leute wie mich heißt es da: Mut zur Lücke, einfach trotzdem hingehen und das Pflaster der eigenen Ignoranz mit einem Ruck herunterreißen. Dann tut es weniger weh.

Wir sind in unserem Zeitfenster nur fünf Leute für zwei persönliche Betreuer:innen, ein vorbildlicher Schlüssel wie auf einer idealen Covidstation. Im Laufe der einen Stunde werden wir zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammenwachsen. Sie füttern uns dicken Vögelchen die Kunst in kleinen Happen in die vom über lange Pandemiemonate angestauten Kulturhunger weit geöffneten Schnäbelchen. Schon nach zwei Minuten gehören wir mit Leib und Seele ihnen und leiden unheilbar am Stockholm-Syndrom. Sie führen uns, weisen uns an und achten darauf, dass uns kein Leid geschieht. Zum Beispiel, dass wir uns nicht anstecken oder unkontrolliert in die Kulissen purzeln, weil wir ja die meiste Zeit über nix sehen.

Man kriegt da nämlich so eine Art Taucherbrille mit Kopfhörern auf und wabert damit blind durch völlig abgefahrene Räume und Welten. Zum Teil kann man den Trip auch interaktiv beeinflussen, entweder mit einem eigenen Steuerungstool oder, am einfachsten, durch die eigene Bewegung, die zu einer Veränderung der Perspektive führt. Die Ausstellung ist überraschend geil: Exakt so hätte ich das auch im Beschreibungstext formuliert – das versteht man doch viel besser. Ich fühle mich voll spacig. „Ich bin dein Vater“, brumme ich Darth-Vader-haft durch den Raum, während ich versuche, im Halbdunkel nach Hermaphroditen in Latexanzügen zu angeln, die auf einem fremden Planeten herumstolzieren. Doch leider ist der Spaß dann viel zu schnell zu Ende.

Am nächsten Tag tritt die Bundesnotbremse in Kraft und die Ausstellung muss schon wieder schließen. Jammerschade, auch wenn es mir im Nachhinein eine Exklusivität beschert, als hätte ich als einer von nur zwei Typen den Mond betreten, und so ähnlich war es ja auch. Dabei hätte ich das Erlebnis gern auch anderen gegönnt, und angesichts des ausgefeilten Hygienekonzepts wäre das gefahrlos möglich gewesen. Stattdessen schimmeln die leeren Räume einen ganzen Monat vor sich hin, um erst diesen Mittwoch wieder aufzumachen. Ein negativer Schnelltest bleibt obligatorisch.

Uli Hannemann