die taz vor elf jahren über einen ruck nach rechts und einen nach links
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Kohl wird also gewinnen, und Scharping wird sein Kinkel-Ersatz – was bleibt denn sonst übrig? Es riecht in Deutschland immer weimarianischer. Zur Wende rechts, als reichte dies nicht, kommt jetzt die Spaltung links. Wer von der rosa-hellgrün-roten „Volksfront“ träumt, dem kann ich nur gute Nacht wünschen. Er vergißt, daß er in Deutschland schläft. Hier ist kein „Volksfront“-Boden, und auch wo einst einer war (Frankreich), ist es beiden Partnern übel bekommen. Laßt uns also von Wichtigerem reden – statt vom Altstern SPD vom Kometen PDS. Die Erfolge der PDS lassen aufhorchen, freilich nur den, der bisher Ohrstöpseln trug. Ich habe nie geglaubt, es werde keine Folgen haben, daß auf deutschem Boden fast ein halbes Jahrhundert lang ein sozialistischer Staat bestand, sei’s auch ein realkommunistisch behinderter. Die PDS ist die sozialdemokratoide Chimäre der DDR.

Deutsche Wiedervereinigung heißt, daß zusammenwächst, was noch nie zusammengehörte, nämlich westliches, gemischt kapitalistisch-sozialdemokratisches Territorium mit östlichem, sozialistisch-kommunistisch Infiziertem. Ein solcher west-östlicher Diwan ist europäisch einmalig. Deutsche wie Europäer werden noch viel und grausamen Spaß kriegen mit dieser Wiederunvereinigung. Sie ist eine langwierige, heilsame Krankheit.

Mich überraschte nur, wie kurz die Inkubationszeit war, ehe das PDS-Virus virulent wurde. Aber es ist ja kein Wunder, bei so brutalem Neokapitalismus wie jenem, der sich als Besatzungsmacht über die Ostdeutschen hermachte. „Sozialismus ist nur ein Reflex des Kapitalismus“: Friedrich Engels. Gut gebrüllt, alter Maulwurf.

Indessen ist die Ära Kohl noch nicht zu Ende. Der Weg zum Sozialismus ist mit Niederlagen gepflastert. Bis aus der SPD wieder eine ordentliche Sozialdemokratie wird und aus der PDS wieder ein ordentlicher Kommunismus – das dauert. Da muß man revolutionäre Geduld haben.

GÜNTER NENNING, 15. 7. 1994