Der Nacktmull: Ein Tier wie kein anderes

zusammengestellt von Philipp Brandstädter

Fit bis ins hohe Alter

Meerschweinchen, Hamster, Mäuse, Ratten werden nicht sehr alt. Ihre Herzen schlagen schnell, ihre Lebensenergie ist schnell verbraucht. Für manche Leute sind sie gerade durch die kurze Lebensdauer ein ideales Haustier. Dann muss man nicht so lange Käfige ausmisten. Wer so drauf ist, sollte sich besser keine Nacktmulle halten.

Im Verhältnis zu ihren verwandten Nagern werden Nacktmulle fürchterlich alt. 20, 30, mal knapp 40 Jahre. Und: Sie altern nicht wirklich. Die Tiere bleiben die ganze Zeit fit und beweglich, bis ins hohe Alter lässt sich kein Verfall von Hirn- oder Muskelmasse nachweisen. Von außen kann man ihr Alter kaum erkennen.

Studien zeigen, dass der Grund für die Langlebigkeit in der Fähigkeit der Zellreparatur liegt. Zellen arbeiten, einfach gesagt, in zwei unterschiedlichen Modi: Reparieren und Wachsen. Werden die Zellen ständig mit Nährstoffen versorgt, ziehen die Zellen Teilung und Wachstum vor. Bleiben die Nährstoffe aus, nutzen die Zellen die Zeit zum Aufräumen. Diesen Modus kennen Heilfastende als Autophagie.

Damit ist die Reinigung und Regeneration von Zellen gemeint. Beschädigte Strukturen werden erkannt, zerlegt und abgebaut. Durch Fasten wollen wir uns diesen Modus zunutze machen: Wir versuchen, dank aufgeräumter Zellen fit und belastbar zu bleiben und unerwünschtes Wachstum, in welche Richtungen auch immer, zu vermeiden. Nacktmulle scheinen an sich gut aufzuräumen. Egal, ob sie nun fasten oder etwas zu fressen haben.

Anti-Krebs-Mechanismus als Nebeneffekt

Von Krebs sprechen wir, wenn Zellen außer Kontrolle geraten und enorm wachsen. Je zellenreicher und je älter ein Organismus ist, desto wahrscheinlicher, dass die Zellen irgendwann derartigen Unfug tun. Bei Nacktmullen jedoch sind kaum Krebserkrankungen bekannt. Jedenfalls nicht in den Laboren, die Nacktmullkolonien halten.

Deshalb untersuchen Forschende die ungewöhnliche Krebsimmunität der Tiere. Ihr Anti-Krebs-Mechanismus scheint in den Zellen im Bindegewebe zu liegen, den Fibroblasten. Sie spielen eine Rolle bei der Wundheilung. Diese Zellen stellen bei Mullen sehr langkettige Hyaluronsäuremoleküle her. Sie sind fünfmal länger als die von Menschen oder Mäusen. Diese Ketten schnüren sich um Zellen und halten sie von abnormem und Krebs verursachendem Wachstum ab.

Hyaluronsäure bindet vergleichsweise große Mengen Wasser und steckt darum auch in manchen Nasensprays oder Augentropfen, um der Austrocknung entgegenzuwirken. Ebenso ist die Säure entzündungshemmend. Auch die Mulle scheinen die Hyaluronsäure vorwiegend zur Pflege ihrer Haut zu bilden. Die Krebsresistenz ist offenbar ein netter Nebeneffekt.

Wissenschaftler der Universität Liverpool wiesen nach, dass die Mullzellen viel widerstandsfähiger gegen Beschädigungen ihres Erbguts sind. Beim Kopieren der DNS treten früher oder später Mutationen auf. Die Nacktmulle kopieren offenbar besser.

Meister im Luftanhalten

Wo wir gerade beim Fasten sind. Radikale Asketen wissen, dass wir theo­retisch ein paar Wochen ohne Nahrung auskommen könnten. Und ein paar Tage ohne Wasser. Aber wie lange halten wir es ohne Sauerstoff zum Atmen aus? Nacktmulle schaffen es bis zu 20 Minuten.

Das ist auch ganz hilfreich. Denn Sauerstoff ist in den unterirdischen Gängen der Nacktmullkolonien Mangelware. Während für Menschen ein Sauerstoffgehalt von unter zehn Prozent in der Atemluft lebensgefährlich wird, kommen die Mulle stundenlang mit fünf Prozent aus. Wenn die Tiere dicht an dicht zusammengekuschelt in ihren Nestern schlafen, bekommen sie zeitweise fast gar keine Luft. Und ersticken nicht.

Achtzehn Minuten halten die Mulle sogar komplett ohne Sauerstoff aus. Dabei fallen die Tiere in eine Art Winterruhe. Ihr Puls senkt sich von 200 auf 50 Herzschläge pro Minute. Die Tiere greifen dann auf eine einzigartige Überlebensstrategie zurück: Sie versorgen ihre Organe unabhängig von Sauerstoff mit Energie. Dazu stellen sie ihren Stoffwechsel von Glukose auf Fruktose um.

Könnte unser Hirn im Notfall so eine kurze Atempause einlegen, müssten wir uns nicht mit den schweren Folgen beschäftigen, die ein Schlaganfall oder ein Herzinfarkt innerhalb von Minuten bei Menschen anrichten kann.

Dialekt kann tödlich sein

Und dann sprechen Nacktmulle noch verschiedene Dialekte. Wie das eben ist, wenn sozia­le Gruppen ohne jeden Austausch voneinander getrennt werden. Eigene Melodien und Phrasen schleichen sich ein.

Das haben Wissenschaftler herausgefunden, indem sie über 35.000 verschiedene Nacktmullgeräusche aufgenommen und mit einem Computerprogramm analysiert haben. Die Software konnte später jedem Mull einen individuellen Sound zuweisen. Darüber hinaus ließen sich Gemeinsamkeiten der Laute innerhalb einer Kolonie feststellen. Daraus haben die Forschenden geschlossen, dass wohl jede Nacktmull­kolonie seinen eigenen Dialekt hat.

In einer Nacktmullkolonie gibt es ständig Geräusche. Die Tiere fiepen, grunzen und zirpen ununterbrochen. Unter all diesen Lauten gibt es auch eine Grußformel: ein leises Zwitschern, mit dem sich die Tiere „Hallo“ sagen – und erkennen. Antwortet ein Mull auf die Begrüßung im angemessenen Sound, so wird er freundlich willkommen geheißen. Spricht er jedoch einen anderen Dialekt, gibt’s Ärger.

Denn Nacktmulle sind fremdenfeindlich. Mulle, die nicht dieselbe Sprache sprechen, werden rabiat aus den Tunneln der Kolonie gejagt, bestenfalls. Für gewöhnlich töten Mulle Artgenossen aus anderen Kolonien, wenn die sich in einen fremden Bau gebuddelt haben.