Der Aids-Schock der Achtziger ist vergessen

Die Zahl der Neuinfektionen mit HIV steigt. Auch wenn alle die Krankheit kennen, immer weniger nehmen sie ernst

BERLIN taz ■ Deutschland, das neue Sorglosland. Zumindest in Sachen Aids. So sehr sich die Nation über Jobnöte grämt – beim Thema HIV sind die Deutschen unbekümmert wie seit Jahren nicht mehr. Sie greifen seltener zum Kondom, selbst beim One-Night-Stand. Und infizieren sich häufiger als zuvor. „Zu vielen gilt Aids nicht mehr als lebensbedrohlich“, sagte Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), die gestern die neue Regierungsstrategie gegen HIV vorstellte.

Teilweise zumindest sind die 9,2 Millionen Euro, die der Staat jährlich in die Aids-Aufklärung steckt, wohlinvestiertes Geld: Fast 100 Prozent der Deutschen wissen schon als Jugendliche über Gefahren Bescheid. Dass bedeutet allerdings nicht, dass sie auch danach handeln. Eine aktuelle Studie belegt: Gerade die unter 45-Jährigen mit vielen wechselnden Partnern benutzen seltener als zuvor Kondome. Zudem mehren sich die Syphilis-Kranken – auch ein Indiz für den Trend zum ungeschützten Sex. Eine Folge: 2004 haben sich 1.928 Menschen neu mit Aids infiziert, rund 200 mehr als 2002.

Die Regierung sinnt auf neue Wege aus der Krise. Eine interministerielle Arbeitsgruppe soll Fachwissen bündeln. Vor allem aber will Ulla Schmidt stärker um eine Hauptrisikogruppe buhlen: die Migranten. Immerhin jeder fünfte Infizierte stammt aus Zuwanderer-Kreisen. Das Wissen über Aids ist dort dürftig – und oft gilt die Krankheit als große Schande, über die niemand spricht. Ulla Schmidt kontert mit einer Politik der kleinen Schritte. Aids-Kampagnen sollen allein über Bilder wirken und so für jedermann verständlich sein. Fremdsprachige Broschüren sollen Zusatz-Infos liefern.

„Die Migranten sind allerdings bei weiten nicht die einzige Problemgruppe. Auch unter jungen Schwulen ist Aids kaum ein Thema“, sagt Bernhard Bieniek vom Arbeitskreis Aids der niedergelassenen Ärzte in Berlin. Viele glauben, dank moderner Pillencocktails sei Aids im reichen Europa kein Problem mehr. Ein Grund für den Irrtum: Der Aids-Schock der Achtziger ist fast vergessen. „Kaum einer kennt mehr persönlich Sterbende“, so Bieniek. Schmidt macht auch die Medien für den neuen Leichtsinn verantwortlich. Sie beschreiben Aids mittlerweile „vor allem als Problem der Dritten Welt“, so das Regierungspapier. Die Bereitschaft der TV-Sender, kostenlos Präventions-Spots auszustrahlen, sei stark gesunken.

Auch die Städte und Kommunen geizen und bieten seltener anonyme und kostenlose HIV-Tests an. „Die Länder und Städte kürzen Jahr für Jahr massiv“, sagt Bieniek. „Das ist fatal.“ Denn so löblich es sei, dass zumindest die Regierung die Aids-Mittel nicht zusammenstreiche – „ohne ein massives Mehr an Geld kriegen wir das deutsche Aids-Problem nicht in den Griff“.

COSIMA SCHMITT