berliner szenen: Affekte völlig ohne Make-up
Emma litt unter einer Make-up-Allergie, die nicht mehr zu übertünchen war. Jetzt wollte sie sich nirgendwo mehr blicken lassen, auf keinen Fall in der Öffentlichkeit, also der Schule, und auch nicht von mir, denn sie hatte einen Ausschlag und durfte sich für Wochen nicht schminken. An ihre Haut durfte nur noch Wasser und keine CD. Allmählich erkannte ich die Umrisse meiner Küche wieder: unpassend nebeneinandergestellte Geräte, der typische Berliner Stil. Ich schaltete das Radio ein, ein ordoliberales Gerät, gekauft, um es nach Ablauf der Garantie wegwerfen zu können, weil es dann kaputt war. Der junge Robert Smith, Sänger der Band The Cure, ein Bandname, der mich für einen Moment sehr glücklich machte, sang im Radio eine alte Weise, ein Kitchen-sink-Drama über Liebeskummer, „10.15 on a Saturday night“. Ich überlegte, ob ich mich regressiv in die Spüle setzen sollte, um alles an mir abperlen zu lassen. Blieb aber doch auf dem Stuhl sitzen und setzte die Gaumensegel, um irgendetwas zu erzählen. Ich erzählte von „Homeland“, der Serie, von der weiblichen Hauptfigur mit Borderline, die als Grenzgängerin mit Störungen der Affektregulation an den äußersten Rändern der Macht unterwegs war, irgendwo in Arabien, aber Emma hörte kaum zu.
„Jahrhundertelang wurde die Frau zur Tugend erzogen“, sagte eine Frau mit Akzent im Radio, demzufolge falle es vielen schwer, zwischen ihren Gefühlen und ihrem Körper zu unterscheiden. Emma sah wirklich müde aus. Es fiel ihr zunehmend schwer, mich anzulächeln. Ob sie angstfrei hergekommen war? Sie, die im Treppenhaus immer möglichst nah an der Wand ging? Sie, die keine Rolltreppen benutzen konnte, weil sie Angst vor Rolltreppen hatte? Ob sie mit ihren Gefühlen in Einklang war? Ich küsste sie und überließ den Rest der aufkommenden Nacht.
René Hamann
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