Wenn das Bezirksamt klingelt

KINDESWOHL Damit keine Kinder mehr verkommen, sollen alle frischgebackenen Eltern besucht werden. Ver.di kritisiert, es gebe nicht einmal genug freiwillige Hilfsangebote

22 Prozent der Kinder von Müttern mit Abitur konnten nicht ordentlich sprechen

VON GERNOT KNÖDLER

Ob sie Schwierigkeiten haben oder nicht – im Bezirk Hamburg Mitte sollen künftig alle Eltern Neugeborener Besuch vom Amt bekommen. Nach einem einstimmigen Beschluss der Bezirksabgeordneten von SPD, CDU, GAL (Grüne), Linke und FDP soll damit der Verwahrlosung von Kindern vorgebeugt werden.

Im März war im Bezirk ein Säugling an Unterernährung gestorben – einer von vielen Fällen der Kindesvernachlässigung, die in Hamburg und ganz Deutschland für Schlagzeilen sorgten. Während die Bezirkspolitiker hoffen, durch die Besuche ein Vertrauensverhältnis zu den Eltern aufbauen zu können, befürchtet Ver.di das Gegenteil. Zunächst einmal müsse dafür gesorgt werden, dass die Nachfrage nach freiwilligen Hilfsangeboten auch befriedigt werden könne, findet die Gewerkschaft.

Mit dem Gratulationsschreiben, das jährlich rund 3.000 neue Elternpaare erhalten, verschickt das Bezirksamt in Zukunft auch eine Einladung: Die Eltern sollen mit dem Gesundheitsamt einen Besuchstermin vereinbaren. Wer sich nicht meldet, bei dem hakt das Amt nach. Was passiert, wenn sich Eltern einem Besuch verweigern? „Dann muss man sich was einfallen lassen“, sagt der Bezirksabgeordnete Peter Herkenrath von der CDU.

Die von der SPD erarbeitete Beschlussvorlage orientiert sich stark an dem Modell von Heinz Hilgers, dem Präsidenten des Kinderschutzbundes und Bürgermeister der Stadt Dormagen. Hilgers überzeugte die Abgeordneten mit den Erfahrungen aus seiner eigenen Kommune, die die Hausbesuche vor dreieinhalb Jahren eingeführt hat. 99,7 Prozent der Eltern freuten sich auf die Besuche, versichert Hilgers.

Hilgers hält es für sinnvoll, früh mit der Unterstützung der Familien zu beginnen: „Jede späte Hilfe ist teuer und funktioniert leider häufig nicht“, sagt er. Dormagen gebe zwar viel Geld für die Prävention aus; das werde aber durch den geringeren Aufwand für nachträgliche Hilfen locker hereingeholt. „Eine Heimunterbringung kostet 80- bis 100.000 Euro im Jahr“, sagt Hilgers, „ein Haushaltsorganisationstraining 5.000 Euro“.

Sämtliche Eltern würden besucht, weil vermieden werden solle, dass der Besuch als stigmatisierend gelte. Im Übrigen gebe es keine sozialen Merkmale, die Probleme von vornherein ausschlössen. 22 Prozent der Kinder von Müttern mit Abitur hätten bei der Einschulung nicht ordentlich sprechen können.

Sieglinde Frieß von der Gewerkschaft Ver.di steht den Hamburger Plänen skeptisch gegenüber. Der Senat habe das Angebot an freiwilligen Hilfen ausgebaut und wolle es weiter ausbauen. Bisher sei der Andrang bei den Familienhebammen, Mütterberatungsstellen sowie den Eltern-und-Kind-Zentren größer als das Angebot. Erst wenn dieser Bedarf befriedigt sei, wäre zu überlegen, ob es notwendig sei, einen Zwang auszuüben. „Ich befürchte, es wird neues Flickwerk aufgebaut“, sagt Frieß. Die Besuche bänden Kräfte, die für Problemfälle benötigt würden.

Als Zwangsbeglückung will die Bezirksversammlung die Hausbesuche gerade nicht verstanden wissen. Es seien „Willkommensbesuche“, die dazu dienen sollten, ein dauerhaftes Vertrauensverhältnis zu den Eltern aufzubauen, sagt Lars Schmidt, der Sprecher des Bezirksamtes. Es solle erreicht werden, „dass der Besuch des Amtes nicht von vornherein negativ behaftet ist“.

Hilgers betont, wie wichtig es sei, an der inneren Haltung der Besucher vom Amt zu arbeiten. Sie müsse unter allen Umständen von Wertschätzung geprägt sein und die Hilfe zur Selbsthilfe im Auge haben. Es müsse klar sein: „Wir kommen nicht, um Dir Dein Kind wegzunehmen, sondern um Dir zu helfen.“ Indem sie zu den Familien gehe und ihr Leistungsspektrum anpreise, komme die Verwaltung ihrer Pflicht als Dienstleister nach.